Günter Schneidewind beim Interview mit Udo Lindenberg. Foto: SWR/ Klöpfer & Meyer Verlag

Wer schreibt, bleibt. Günter Schneidewind, als wandelndes Poplexikon von Radiohörern verehrt, geht nächstes Jahr in den Ruhestand. Sein neues Buch mit „Hits und Storys“ ist eine Wundertüte, meint unter Kolumnist Uwe Bogen.

Stuttgart - Wenn es um abrufbares Wissen geht, sollte man meinen, hat kein Mensch gegen Google eine Chance. Sekundenschnell findet man Daten, Fakten, Infos im World Wide Web.

Wie viel Kinder hat Mick Jagger? Acht! Wie lautet der zweite Vorname von Udo Lindenberg? Gerhard! Welche Fächer hat Günter Schneidewind in der DDR unterrichtet? Deutsch und Englisch! Aus dem Netz hab’ ich all dieses unnütze Wissen gefischt.

Am 14. November liest er im Bix

Datenbanken anzapfen – das ist kinderleicht. Viel schöner aber ist, wenn uns ein Mensch aus Fleisch und Blut mit der Begeisterung, der sympathischen Art und der vertrauenerweckenden Stimme vom Schneidewind Dinge aus der Musikgeschichte erzählt, die wir brauchen können oder auch nicht. Selbst was uns nicht die Bohne interessiert, wird im Erzählstrom des nach der Wende rübergemachten SWR-1-Moderators spannend und knistert.

Mick Jagger tourt mit 74 Jahren, Peter Maffay plant mit 69 eine MTV-unplugged-Konzertreise – und Günter Schneidewind will schon mit 65 dem Funkhaus Lebewohl sagen (in der zweiten Hälfte von 2018)?

Womit er sich als Rentner (unglaublich, wenn man ihn erlebt) beschäftigen könnte, ahnt, wer seinen Terminplan kennt. Gerade hat er in Neckarwestheim Premiere seines Buchs „Der große Schneidewind – Hits und Storys“ gefeiert. Am 26. Oktober liest er daraus in der Stadtbibliothek Filderstadt. Man sieht, er nähert sich allmählich Stuttgart und wird dort, gut trainiert nach dem Einsatz im ländlichen Raum, zu den Buchwochen am 14. November im Bix sein. Auch ein Rockstar spielt sich in kleinen Hallen warm, bevor er sich ins Zentrum traut.

In der DDR aufgewachsen

Seine Kollegen und Fans nennen ihn – in Anspielung an den Großen Brockhaus – den Großen Schneidewind, weil er mit Klugscheißerwissen in Sachen Rock und Pop alle SWR-Leute in den Schatten stellt. Selbst auf die kniffligste Frage kann er erschöpfend Antwort geben. Nachts kann man ihn aus dem Bett klingeln, wenn ein Musiker gestorben ist. Er weiß alles über ihn.

In Wahrheit trifft sein von den Kollegen verliehener Spitzname aber gar nicht zu. Der Autor ist das Gegenteil des großmachenden Buchtitels. Dieser Mann ist äußerst bescheiden. In der DDR ist er aufgewachsen. Da blieb wenig Platz zum Angeben.

Heimlich hörte er Westsender, ließ sich Platten der Stones oder Pink Floyd in Hüllen von klassischer Musik ins Land schmuggeln. Als Keller-DJ hat er sich in jungen Jahren Popwissen über den Trendslalom des Westens angeeignet und daheim weit unten gespielt, was offiziell verboten war.

Der „Wind of Change“, der Mauerfall, hat ihm neue Chancen eröffnet. Beim Ostberliner Jugendsender DT64 wurde er Moderator und kam 1990 zum SDR nach Stuttgart, als es darum ging, eine gesamtdeutsche Hitparade aufzustellen. Von den Schwaben kam er nicht mehr los. Uns wundert’s nicht. Am wichtigsten, weiß er, sind für das Interview mit einem Star der erste Moment und eine gute Vorbereitung. Künstler merken schnell, wenn einer schwafelt und keine Ahnung hat. Außerdem kommt es darauf an, einen guten Draht zu finden.

Die meisten sind kleiner als der Schneidewind

Wie groß ist dieser Schneidewind eigentlich? Auf den Fotos im Buch ist er größer als Jimmy Page, Joe Cocker, Steve Winwood, größer als fast alle. Nur Mike Rutherford ist größer als der Musikexperte. Udo Lindenberg (knapp kleiner) hat den Schneidewind kumpelhaft umarmt. Peter Maffay bleibt auf Distanz. Mit Enya sitzt der Radiomann auf einem weißen Sofa. Er am rechten Rand – sie scheint sich von ihrem Rand fortbewegt zu haben, in seine Nähe. Journalisten sollten wissen, dass die Nähe, die Künstler zu ihnen suchen, nicht immer was mit Sympathie zu tun hat. Stars finden uns Medienheinis nicht unbedingt toll, weil wir so irre Typen sind, sondern weil wir ihnen helfen können, mehr Karten und Platten zu verkaufen.

Schneidewind hat Interviews von früher aufgeschrieben, etwa mit Kim Wilde, Neil Diamond oder Chris de Burgh. Die Aktualität ist seitdem vorangeschritten. Nette Anekdoten findet man im Buch. Sensationen sind nicht darunter, die zum Umschreiben der Rockgeschichte zwingen. Was im „Großen Schneidewind“ auffällt: Immer dann sind Pophelden gesprächsbereit, wenn sie eine Tour starten oder ein Album promoten.

Und deshalb sind die schönsten Stellen im Buch jene, in denen die Musiker nicht über ihre neuen Pläne sprechen, sondern dann, wenn zu spüren ist: Die Großen sind auch nur Menschen mit Macken! In Wahrheit sind die meisten ohnehin kleiner als der Schneidewind. Wir haben es geahnt.

„Der Große Schneidewind – Hits & Storys“, Klöpfer & Meyer, 270 Seiten, zwölf Abbildungen, gebunden, 22 Euro.