Zeit für Selfies: Der Musiker Tiemo Hauer in seiner Stuttgarter WG Foto:  

Der Stuttgarter Musiker Tiemo Hauer bringt an diesem Freitag sein neues Album heraus – gezwungenermaßen vom Homeoffice aus.

Stuttgart - Von den vielen schwer erträglichen Situationen, in die das Coronavirus derzeit viele Künstler versetzt, erlebt Tiemo Hauer eine besonders unerträgliche. Der Stuttgarter Musiker bringt am Freitag sein neues Album heraus, „Gespräche über die Vor- und Nachteile des Atmens“ heißt es. Eigentlich ein hübsch existenzialistischer Titel. Aber das Gespräch über das Album ist dann doch eines über die Nachteile von Homeoffice, wenn man Musiker ist.

In Tiemo Hauers Fall heißt das zum Beispiel, dass er nicht im ZDF-„Morgenmagazin“ auftritt, um sein neues Album zu promoten. Stattdessen nehme er sich eine Stunde Zeit, um im WG-Zimmer ein hübsches Selfie mit dem neuen Album zu machen – gezwungenermaßen, wie der Dreißigjährige betont. Was man halt so macht, wenn der ganze Schwung zum Albumrelease absehbar verpufft und die Tour samt Konzert im Wizemann auf kommenden Februar verschoben wird.

Für das Interview hat Hauer sich auf die Loggia gesetzt und sein Smartphone an eine Kaffeetasse gelehnt, die zwei-, dreimal macht, was sie will. Hinter Hauer blüht eine Blümchentapete. Er hat viel Zeit, erzählt vom letzten Album aus dem Jahr 2016 und dem anschließenden Bruch mit seinem Geschäftspartner und Manager. Die neue Platte kommt beim deutsch-schweizerischen Label Radicalis heraus und nimmt sich ein erfreulich großes Maß an musikalischer Freiheit.

Darauf sind ein paar Songs, die hörbar spätabends allein am Klavier eingespielt wurden, dazu diese Rio-Reiser-Gedächtnisstimme. Andere Tracks greifen den aktuell wieder angesagten Achtziger-Jahre-Schlagersound auf, mit Synthesizer, großer Gitarrensolo-Geste zum Sex beim ersten Date. Dazu Zeilen wie diese: „Seit die Menschen kleine Bildschirme haben / Die sie immer bei sich tragen / Stellen sie sich keine Fragen mehr / Sie laufen langsam vor mir her“.

Was musikalisch gefällt, muss textlich ja nicht flach sein. Er wisse schon, dass er kein neuer Mark Forster sei, sagt Tiemo Hauer. Aber die Herzen der Damen fliegen ihm doch zu? Hauer lächelt. In Zeiten von Spotify weiß man genau, wer seine Hörer sind. Ungefähr die Hälfte sei männlich, so Hauer, die Altersspanne liege zwischen 20 und 45. Er redet darüber nicht von sich aus, sondern auf Drängen des Journalisten. Man nimmt ihm ab, dass er Musik nicht für eine bestimmte Zielgruppe schreibt; das Album ist der beste Beweis dafür. Und doch: „Bei Spotify zählt ein Stream ja erst, wenn der Nutzer mindestens dreißig Sekunden lang zugehört hat“, berichtet Tiemo Hauer, „darauf hin wird optimiert, und irgendwie klingt alles auch immer ähnlicher“.

Was macht er in Zeiten von Kontaktverbot? Musik laufe schon oft, sagt Hauer, aber oft nebenher. Bewusst höre er vor allem beim Duschen und beim Kochen. Und im Auto, aber man braucht derzeit ja nirgendwo hinzufahren. „Ich überlege mir schon oft, was ich alternativ zu den Dingen machen könnte, die jetzt eigentlich passieren würden“, sagt der Musiker. Nur irgendwann sind die Selfies halt gemacht, die Livestreams abgefeuert. Nachts allein am Klavier, das wäre jetzt was. Funktioniert in der WG aber nicht so gut.

Trotzdem: Könnte er jetzt nicht, ganz Homeoffice-mäßig, an neuer Musik arbeiten? An sich ja, sagt Hauer – wenn nicht sein Heimstudio im elterlichen Keller eingerichtet wäre, er aber seine WG in Stuttgart-West derzeit höchstens zum Gassigehen mit seinem Hund verlässt. „Wobei“, und da fährt Hauer sich durch den Wuschelkopf, „ich habe alte Elektro-Tracks entdeckt, an denen ich jetzt weiter bastle“. Geht auch mit Kopfhörer, so stört man wenigstens die Mitbewohner nicht. Und wer weiß: Vielleicht entdecken wir bald noch eine ganz neue Seite an diesem hochinteressanten Musiker.