Wer braucht Robbie Williams, wenn er Justin Timberlake haben kann? Foto: Tom Munro

Erst alberte er im „Mickey Mouse Club“, dann bei ’N Sync herum. Doch heute ist der Ex von Britney Spears und Cameron Diaz Stilikone und gefragter Schauspieler. Ach ja, aufregende Musik macht er inzwischen auch: Jetzt ist „The 20/20 Experience“, das neue Album Justin Timberlakes, erschienen.

Allein gelassen, in einen riesigen Kokon aus Vorhängen gesperrt, klagt er darüber, dass er es nicht mehr aushalte, dass er keine Freunde und keine Träume mehr habe. Und in traurig blaues Licht getaucht, bittet er um Hilfe: „Is anybody out there?“, fragt Justin Timberlake flehend, und 14 000 Fans in der Schleyerhalle antworten kreischend.

Das war im Mai 2007, als Timberlake zum Auftakt seiner Deutschlandtour in Stuttgart auftrat. Der US-Superstar zappelte zwar immer wieder vergnügt über die Bühne, tänzelte mal elegant, mal wild um das Mikrofon, lud R’n’B-, Dancefloor-, Hip-Hop- und Elektrodisco-Nummern mit all dem Sexappeal auf, den er sich im Lauf seiner Karriere angeeignet hat. Doch seine Musik versprach schon damals mehr. Zwar konnte er in Stuttgart als Folge seiner Boygroup-Zeit bei ’N Sync nicht einmal tief Luft holen, ohne dass dies mit Kreischen kommentiert wurde. Trotzdem war nicht zu überhören, dass der Mann, der seine erste Freundin Britney Spears einst bei der TV-Show „Mickey Mouse Club“ kennengelernt hatte, jetzt erwachsen werden wollte. Poetische Bilder wie die, die er zur Soulballade „Losing My Way“ entwickelte, als er zu einem auf Vorhänge projizierten Gospelchor ein Duett singt, bekommt man jedenfalls bei Popkonzerten nur selten zu sehen.

Inzwischen ist Timberlake 32 Jahre alt, nahm sich nach dem Album „FutureSex/LoveShow“, mit dem er 2007 in Stuttgart gastierte, eine lange musikalische Auszeit, hat sich ins Filmgeschäft gestürzt, erst den Teeniekönig Artie in „Shrek 3“ gesprochen und später in Filmen wie „The Social Network“ oder „In Time“ als Schauspieler überzeugt. Nebenher fand er noch Zeit, Dauergast bei der TV-Show „Saturday Night Live“ zu werden und die Schauspielerin Jessica Biel zu heiraten.

Platte voller großer soulig-eleganter Popentwürfe

Weil aber Timberlake bei sich selbst inzwischen die Aufmerksamkeitsstörung ADHS diagnostiziert hat, wundert es nicht, dass er nun auch wieder musiziert. Und das Album „The 20/20 Experience“ ist Justin Timberlakes Reifezeugnis: eine Platte voller großer soulig-eleganter Popentwürfe. Einen Vorgeschmack auf diese erstaunliche Rückkehr Justin Timberlakes hatte es bereits vor einem Monat bei der Grammy-Verleihung in Los Angeles gegeben. Passend zum Songtitel „Suit & Tie“ präsentierte sich der Mann aus Memphis, Tennessee, als diskreter, charmanter Erretter des Pop. Lieder wie „Suit & Tie“ beschränken Geschmackssicherheit schließlich nicht nur auf die gepflegte Abendgarderobe, sondern auch auf ausgesucht stilvolle musikalische Inszenierungen. Der Song ist eine mit dezenten Bläserakzenten beginnende, glitzernde Curtis-Mayfield-Gedächtnis-Nummer, die Wah-Wah-Gitarren und einen Discobeat in funkelnde Harmonien tunkt, zu denen Timberlake dann verspricht, ein paar Dinge über die Liebe zu verraten, bevor er sich locker über die Tanzfläche dreht und in der dritten Strophe dann das Mikro an Jay-Z weitergibt, der sich dann in seiner Rapeinlage ebenfalls für eine neue Kleiderordnung im Pop ausspricht.

Das ganze Album erweist sich als unerhört detailverliebte Disco-Soulrevue mit Ausflügen zum R’n’B („Mirrors“, „Tunnel Vision“) . Das Spektakel beginnt mit einer furiosen orchestralen Ouvertüre, die Drama, Romanze, Action und damit nicht zu viel verspricht – und die unmerklich übergeht in „Pusher Love Girl“: eine herrlich synkopierende Popsuite, in der Timberlakes betörendes Falsett mit hübschem Firlefanz verziert wird wie knurrenden Bläsern, verschnörkelten Gitarren, quakenden Orgeln, seufzenden Streichern und jauchzenden Backgroundchören.

Fast alle Songs über sieben Minuten

„The 20/20 Experience“ bietet Pop, der sich wunderbar aufplustert, der zugleich in die Tiefe und in die Weite geht. „Wenn Pink Floyd, Led Zeppelin oder Queen Zehn-Minuten-Songs machen können, warum sollten wir das nicht auch machen dürfen?“, hatte Timberlake während der Arbeit an dem Album in einen Interview gesagt. Und tatsächlich dauern fast alle Songs auf der Platte über sieben Minuten und sind eigentlich viel zu lang, zu intensiv, zu vielschichtig, zu komplex, zu gut, um als Radiohits zu taugen. Etwa wenn sich Timberlake in „Don’t Hold The Wall“ oder „Let The Groove Get In“ auf polyrhythmische Schlenker einlässt, im epischen „Spaceship Coupe“ ein ulkig-verdrehtes Gitarrensolo einbaut oder am Ende des Albums eine empfindlich verworrene, impressionistische Ballade „Blue Ocean Floor“.

Ständig werden die Möglichkeiten des Pop mit einer Genauigkeit und Gründlichkeit erprobt, wie man sie in aktuellen Produktionen nur selten zu hören bekommt. Zu verdanken ist das auch dem Überproduzenten Timbaland (Beyoncé, Madonna) , der sich schon 2007 in Stuttgart nicht zu schade war, für Timberlake mit einem DJ-Set den Pausenclown zu spielen. Schon damals in Stuttgart erwies sich Timberlake abseits des damals noch recht juvenil zuckenden Soundtracks als überaus charmanter Alleinunterhalter. „Mein Deutsch ist sehr schlecht“, bekennte er zwar, ließ sich davon aber nicht abhalten, alle deutschen Brocken auszuplaudern, die er drauf hat, seit seine Karriere hier einst durchstartete – 1996, als Timberlake als Mitglied von ’N Sync noch für DJ Bobo die Vorgruppe machte.