Literarische Figur, die an Perfidie ihresgleichen sucht: Anthony Hopkins gab Hannibal Lecter ein Gesicht, die der Autor Thomas Harris erschaffen hatte. Foto: dpa

13 Jahre lang veröffentlichte der US-Autor Thomas Harris, der mit dem kannibalistischen Helden Hannibal Lecter berühmt wurde, keine Zeile. Legt er jetzt mit „Cari Mora“ einen neuen Bestseller nach?

Stuttgart - Dr. Hannibal Lecter hat einen ganz besonderen Platz in der Popkultur. Mit dem Psychiater, der Menschenfleisch gern als Haute Cuisine serviert, schuf der US-Autor Thomas Harris in den 1980ern eine literarische Figur, die an Bestialität, Perfidie und Popularität noch heute ihresgleichen sucht. Seit der Verfilmung von „Das Schweigen der Lämmer“ ist der Serienkiller kaum ohne das Gesicht von Anthony Hopkins vorstellbar, der sich für seine Darstellung einen Oscar holte. Auch in „Roter Drache“ und „Hannibal“ glänzte er in seiner Paraderolle. Für das US-Filminstitut ist Lecter der größte Leinwand-Schurke aller Zeiten.

Mächtige Fußstapfen sind das, in die der neue Harris-Bösewicht treten muss. Etwa 13 Jahre, nachdem die Kannibalen-Tetralogie in „Hannibal Rising“ ihr Ende fand, legt der öffentlichkeitsscheue US-Autor im Alter von bald 80 Jahren mit „Cari Mora“ erneut einen Thriller vor. Von seinen bislang fünf erschienenen Romanen sollen weltweit mehr als 30 Millionen Exemplare verkauft worden sein. Kaum ein anderes Buch war in diesem Frühjahr sehnsüchtiger erwartet und geheimer gehandelt worden als dieses. Journalisten, die darüber berichten wollten, mussten zusichern, vor der Veröffentlichung nichts durchsickern zu lassen. Nun ist der Roman auf Deutsch zu haben. Kann er mit den Vorschusslorbeeren mithalten?

Der Mörder ist ein Deutscher

Der Hannibal Lecter in „Cari Mora“ trägt den Allerweltsnamen Hans-Peter Schneider - ein Deutscher, der ein wenig an Stummfilm-„Nosferatu“ Max Schreck erinnert: groß, blass, unbehaart, mit ungewöhnlich langen Eckzähnen und hervorquellenden Augen. „Das Weinen einer Frau ist Musik für Hans-Peter“, heißt es zu Beginn. „Es beruhigt ihn.“ Im Tank neben ihm schwimmt eine Leiche in ätzender Lauge. Doch folgt der Mörder keiner inneren Lust. Die Frau hatte sich einfach „als geschäftlicher Fehlschlag“ erwiesen. Gerade einmal ihre Nieren konnte er verkaufen. Der Rest muss sich in Paste auflösen.

Schneiders Trieb ist also der schnöde Mammon. Er richtet für steinreiche Kunden Frauenkörper wunschgemäß her und zu. Welch ein Unterschied zum brillanten Lecter, der mit seinen Opfern erst Psychologierätsel spielt, bevor er sie genüsslich gar kocht. Leider ist der Killer in „Cari Mora“ allzu sehr mit abgewetzten Klischees beladen: Verrückt nach seinem weißen Latex-Anzug (der aber leider quietscht) summt er immer wieder ein deutsches Volkslied oder lässt Schuberts „Forellenquintett“ über die Stereoanlage donnern. Interessant ist an der Figur nicht viel.

Es geht ums Geld

Die Haupthandlung im Roman dreht sich denn auch gar nicht um die Frauenmorde, sondern um Zaster. Schneider befindet sich mit anderen Gangstern in einem Wettlauf um den mit Millionen gefüllten Tresor im Wassergrundstück des toten Drogenbarons Pablo Escobar in Miami.

Haushälterin ist dort die junge Cari Mora, die als Mädchen den kolumbianischen Farc-Rebellen entfloh und ihren Aufenthaltsstatus in den USA nun mit Gelegenheitsjobs aufrechterhält. Sie steckt mit einer der Banden unter einer Decke. Doch Schneider sieht in ihr nicht die Konkurrentin um das Escobar-Erbe, sondern eine Einnahmequelle: „Mit diesen interessanten Narben konnte er sie teuer verkaufen“, sagt er zu sich, als er sie durchs Fernglas beobachtet.

Ob Horrormeister Stephen King vom neuen Roman beeindruckt ist? Anfang April twittert er nach der Lektüre über Harris: „Seine Prosa zu lesen ist, als würde man langsam mit der Hand über kalte Seide streichen.“ Schwelgerisch klingt anders. Schon am „Cari Mora“-Vorgänger „Hannibal Rising“ schieden sich die Geister, manch Kritiker sah im Lecter-Erfinder nur noch eine gehobenere Version von Dan Brown.

Zu hohe Grusel-Erwartungen?

Das neue Werk bleibt weit hinter den (hochgedrehten) Erwartungen zurück. Der Sprache fehlt die Abwechslung, so manche Symbolik wird aufgemacht, aber nicht zu Ende gedacht. Besonders ärgerlich: Bei dem Thriller läuft es kaum einem kalt den Rücken herunter. Zudem krankt der Roman an der Fülle seiner Personen. Die etwa zwei Dutzend Figuren bleiben alle oberflächlich. Selbst die Rückblenden auf das Leben Moras im Rebellencamp hat für die Handlung kaum Bedeutung.

Da bisher noch alle fünf Romane von Harris verfilmt wurden, wird wohl auch dieses Buch seinen Weg auf die Leinwand finden. Zu hoffen bleibt, dass gewiefte Drehbuchschreiber den nötigen Nervenkitzel beisteuern und Regisseure beeindruckende Gänsehautszenen einfangen. Der Roman selbst jedenfalls ist leider kein Pageturner.

Erschienen im Heyne-Verlag. Aus dem amerikanischen Englisch von Imke Walsh-Araya. 336 Seiten, 22 Euro