Entkommen aus der Endlosschleife: der Schweizer Schriftsteller Peter Stamm Foto: dpa

„Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt“: Der Schweizer Autor Peter Stamm verwandelt in seinem neuen Roman eine Schreibkrise in eine raffinierte Gespenstergeschichte für Erwachsene.

Stuttgart - Ein Mann erzählt einer jungen Frau sein Leben. So könnten viele Geschichten beginnen. Aber wer möchte etwas lesen, was es schon gibt? Das Ringen um das Singuläre und Besondere hat schon manchen Autor in eine Schreibkrise gestürzt – so auch den, der hier erzählt. Einen erfolgreichen Roman hat er bislang geschrieben. Dann gingen ihm die Ideen aus. Alles, was nun kommt, war schon einmal da; der Albtraum eines jeden Schriftstellers.

Peter Stamm hat daraus einen Roman gemacht, genauer einen Schauerroman. „Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt“ spielt an der Schwelle zweier Sphären, zwischen Leben und Tod, Wirklichkeit und Literatur, Wahrheit und Wahn. Denn jener Mann erzählt der fremden jungen Frau eben nicht nur sein Leben, sondern auch ihr eigenes. Beide sind bis auf kleine Abweichungen weitgehend identisch. Die junge Frau, wie die einstige Geliebte des Mannes Schauspielerin, lebt mit einem Autor zusammen, der gerade dabei ist, seinen ersten Roman zu vollenden, derselbe, den der Mann bereits sechzehn Jahre zuvor geschrieben hat. Was hat das für Konsequenzen für das Leben der Frau? Für sein eigenes? Für sein Schreiben? Beim Spaziergang durch Stockholm, wo der Jüngere während eines Drehbuchworkshops eines amerikanischen Serienautors dabei ist, seine Seele zu verkaufen, erzählt der Ältere, wie es ihm dabei ergehen wird, denn all dies hat er schon durchgemacht.

Das Leid seiner Generation

Wenn jemand über die Unglücksgeschichten seiner Generation verfügt, ist das der im vergangenen Jahr mit dem Stuttgarter Cotta-Preis ausgezeichnete Schweizer Autor Peter Stamm. Ein Leidschatz gescheiterter Beziehungen und enttäuschter Hoffnungen – wie schwer dessen Gewicht lastet, kann man diesem Gedankenexperiment entnehmen, das die existenzielle Verantwortung seines Berufs in einem Nachtstück ausagiert. „Wenn alles, was man macht, zweimal geschieht, wenn jede Entscheidung, die man fällt, nicht nur einen selbst betrifft, sondern auch einen anderen, der einem ausgeliefert ist, dann überlegt man besser zweimal, was man tut.“

Spiegel, Doppelgänger, Masken, Friedhöfe, Schwellenreiche, tote Tiere und Eichendorff-Zitate flankieren den Weg der ewigen Wiederkunft dieses Erzählens. Zwischen Gräbern und Auferstehungskapellen offenbart der Mann der jungen Frau ihre Zukunft aus seiner Vergangenheit nebst einigen anderen Betriebsgeheimnissen seiner schwarzen Kunst. „Zum ersten Mal hatte ich beim Schreiben gespürt, dass ich eine lebendige Welt erschuf. Zugleich entglitt mir die Realität immer mehr, erschien mir der Alltag langweilig und schal.“ Tötet Literatur, indem sie die Welt verdoppelt und aussaugt? Erheischt sie das Opfer des eigenen Lebens? Ist sie am Ende Handlangerin der Schicksalsmacht, an der Ehen zugrunde gehen, Verhältnisse versteinern, um daraus ihre Geschichten zu gewinnen?

Es gehört zum nicht geringen Reiz dieses Traumspiels, dass es seine fantastische Eigenart in derselben präzisen Einsilbigkeit entwickelt, die zur Signatur der Stamm’schen Weltstillleben geworden ist. Dazu gehört das Gespür, in der trockenen Luft eines Hotelzimmers den Duft nach einem Raumspray vernehmbar zu machen, die Empfänglichkeit für die melancholische Poesie von verlassenen Gewerbezonen, Einkaufszentren und Bürogebäuden, oder die feine Diskretion, mit der Dingsymbole und Literaturanspielungen wie beiläufig eingespielt werden, ohne den luftig-lakonischen Duktus des Ganzen zu beschweren. Und mittendrin ein Satz wie dieser: „Irgendwann musste uns das Glück abhandengekommen sein, ich wusste nicht, wie und warum es geschehen war.“ Ein Satz, unter dessen dunkler Macht die Figuren Peter Stamms nicht nur in diesem Roman stehen.

Verzaubertes Vakuum

Wie in einer Kristallkugel schillert, merkwürdig verzerrt, der ganze Kosmos dieses Autors, stillgestellt in einer Endlosschleife zwischen Vergangenheit und Zukunft. Und immer wieder meint man frühere Zusammenhänge und Figuren zu erkennen, als wären es Hologramme der Erinnerung. Doch es gibt ein Entkommen aus diesem verzauberten Vakuum. Es sind die kleinen Abweichungen und Asymmetrien. Das ganze Universum basiere auf einem winzigen Ungleichgewicht zwischen Materie und Antimaterie, wird ein Physiker einmal zitiert. Hätte es diesen Fehler nicht gegeben, hätten sich Materie und Antimaterie längst wieder aufgehoben – und es existierte gar nichts.

Bei aller Bewunderung für die wohlkonstruierten Spiegelungen dieses Romans lässt sich diese Erkenntnis auf ihn selbst zurückwenden. Denn zu seiner Magie gehört unverkennbar, den Makel einer Schreibkrise fruchtbar gemacht zu haben. Den Schriftstellerfluch der Wiederholung bannt er in eine raffinierte, vielansichtige Gespenstergeschichte für Erwachsene, in der die Leiden der einen die Leiden der anderen spiegeln. Das ist entschieden mehr als nichts. Es ist das, was die Schöpfungen der Literatur der sanften Gleichgültigkeit der Welt entgegenzusetzen haben.

Peter Stamm: Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt.
Roman. S.-Fischer-Verlag. 160 Seiten, 20 Euro.