Gefährliche Abenteuer an der Schnittstelle von Politik und Literatur: Patricio Pron Foto: Casa de América/Jorge del Campo

„Vergieß deine Tränen, für keinen, der in diesen Straßen lebt“: Patricio Pron lüftet in seinem neuen Roman einige dunkle Geheimnisse der italienischen Futuristen.

Stuttgart - Ende der 1930er Jahre fanden in Spanien und Südamerika mehrere antifaschistische Schriftstellerkongresse statt. Von einem faschistischen Schriftstellerkongress, zu dem sich noch im April 1945 kurz vor Kriegsende namhafte Futuristen und einige Nazi-Autoren trafen, hatte man bislang allerdings noch nicht gehört. Initiatoren waren angeblich der Futurist Filippo Tommaso Marinetti und der faschistoide amerikanische Dichter Ezra Pound. Der Konvent von Pinerolo in der Nähe von Turin sollte das Ansehen der von Benito Mussolini gegründeten Sozialrepublik Italien mehren, besser bekannt als Republik von Salò. Das jedenfalls behauptet der argentinische Schriftsteller Patricio Pron in seinem Buch mit dem rätselhaft-elegischen Titel „Vergieß deine Tränen für keinen, der in diesen Straßen lebt“. Pron legt das titelgebende Zitat Hans Zöberlein in den Mund, der seine Teilnahme an dem Kongress angeblich absagte. Aber hätte der Verfasser übelster Kriegspropaganda tatsächlich eine derart blumige Formulierung gewählt? Das bleibt eines der Geheimnisse dieses wundersam labyrinthischen Romans, der auf mehreren Zeitebenen spielt: 1944/45, zur Hochzeit der Roten Brigaden 1978 und schließlich 2014 in Mailand.

Vertracktes Vergnügen

Das Herzstück des Romans bildet ein Register der Kongressteilnehmer, das deren Leben und wichtigsten Werke nach Art eines Literaturlexikons vorstellt. Dabei irritieren und amüsieren subjektive Einsprengsel im Text. So sei einer der Futuristen zu schüchtern gewesen, um auf sein Schaffen aufmerksam zu machen. Ein anderer habe nach dem Konkurs seiner Süßwarenfabrik Selbstmord begangen. Wahr ist hingegen, dass der NS-Dramatiker Hanns Johst nach 1945 als „Oldemar Oderich“ für die Supermarkt-Kundenzeitschrift „Die kluge Hausfrau“ dichtete. Der italienische Futurismus als erste künstlerische Avantgarde, die im Kontakt mit der Macht alles verlor, fasziniert Patricio Pron anhaltend, so wie überhaupt der Zusammenhang von Kunst und Gewalt.

Der schillernde Konvent im April 1945 endet vorzeitig mit dem gewaltsamen Tod des Teilnehmers Luca Borello. Darüber führen zwei andere erfundene Futuristen, die wie viele ihrer Kollegen umstandslos zu Faschisten mutierten, Jahrzehnte später eine Art Dialog. Diese beiden werden 1978 von Peter/Pietro Linden befragt, einem Sympathisanten der Roten Brigaden. Er ist der Enkel eines Partisanen, der im Zweiten Weltkrieg verletzt und von einem faschistischen Schriftsteller gesundgepflegt wurde. Diesen versucht Linden nun ausfindig zu machen, parallel zur Leserschaft, die alle Puzzleteile des vielschichtigen Textes zusammensetzen muss – ein vertracktes Vergnügen. Ausdrücklich zu loben ist die Übersetzung von Christian Hansen, der vor allem durch die Übertragung von Roberto Bolaños Jahrhundertroman „2666“ großes Renommee erwarb. Und so bietet die Lektüre von „Vergieß deine Tränen für keinen, der in diesen Straßen lebt“ ein einmaliges Abenteuer an der Schnittstelle von Politik und Literatur, von Geschichte und blühender lateinamerikanischer Fantasie.

Patricio Pron: Vergieß deine Tränen, für keinen, der in diesen Straßen lebt. Roman. Aus dem Spanischen von Christian Hansen. Rowohlt Verlag. 416 Seiten, 24 Euro.