Anna Osadcenko und Marti Fernandez Paixa in Hans van Manens „Kammerballett“ Foto: Stuttgarter Ballett

Was passiert, wenn sich acht Menschen auf engem Raum wiederfinden? Wenn man sechs zornige, junge Männer zusammensperrt? Wenn einer die Sonne ausknipst? Existenzielle Fragen verhandelt der Stuttgarter Ballettabend „Kammerballette“, und er zeigt, wie Kleines Großes widerspiegeln kann.

Stuttgart - Eine Kammer ist ein kleiner, privater Bereich. Ein Ort des Rückzugs, wenn einen die Welt draußen zu heftig attackiert. Wie derzeit, wenn sich Flüchtlingsströme an Zäunen brechen und die Einheit Europas bröckelt. „Kammerballette“ heißt der neue Abend des Stuttgarter Balletts.

Doch die Premiere am Freitag im Schauspielhaus hat gezeigt, dass die daran beteiligten Stücke kein Privatissimum sein wollen, wie der Titel suggerieren könnte. Im Gegenteil: Von Hans van Manens „Kammerballett“, eine Stuttgarter Erstaufführung, die dem Abend ihren Titel lieh, über Glen Tetleys Männerballett „Arena“ bis zu Katarzyna Kozielskas Uraufführung „Neurons“ war Tanzkunst zu sehen, die in ihrer modernen Ästhetik zeitlos ist – und die doch und gerade deshalb Stellung beziehen kann.

Ganz am Ende des Abends gab es großen Jubel und viele Bravo-Rufe für die Stuttgarter Halbsolistin und Choreografin Katarzyna Kozielska und ihre Tänzer. Ob die Bewegungen der zehn tatsächlich von Neuronen oder Gehirnwellen inspiriert sind, wie es der Titel andeutet? Viel wichtiger war, dass Kozielska die Stärken ihres Vokabulars kennt und auf sie baut: Schnell Fließendes, sich flink verwindende Paarsituationen wechseln ab mit fast monumental inszenierter Körperlichkeit. Vor allem für ihre Kolleginnen hat die Choreografin verblüffende Einfälle, sie lässt etwa Elisa Badenes in einer Pirouette wie in einem Schneckenhaus verschwinden.

Myriam Simon lässt mit dem Tanz die Sonne aufgehen

Verstecken muss sich in diesem Ballett niemand, auch wenn es indirekt davon erzählt: Die Nebelschleier hängen feinstaubtief, machen den Bühnenraum klein und diffus, als „Neurons“ beginnt. Dann lässt Myriam Simon mit dem Tanz die Sonne aufgehen – ihr trichterförmiges Kleid, wie die restlichen, metallisch glänzenden Anzüge vom ehemaligen Stuttgarter Solisten Thomas Lempertz entworfen, leuchtet von innen. Von oben umfängt die ballerinenhaft Schwebende ein Ring von Scheinwerfern – eine strahlende Lichtskulptur, die wie eine Sonne nach oben zieht.

Schon in „A. Memory“, der ersten Choreografie für die eigene Kompanie, gelangen Katarzyna Kozielska im Dialog mit einer Skulptur (der US-Künstlerin Janet Echelman) stimmungsvolle Tanzmomente. In „Neurons“ jedoch vermisst man die Transparenz in der Struktur, die schlüssige Dramaturgie, die den Erstling auszeichneten. Der Kontrast der von der Musik Max Richters angedeuteten Traumwelt und dem aufbrausenden Klangdrama, das John Adams ausmalt, verpufft weitgehend – so wie die Sonne nur kurz scheint. Dann machen intensive, innige Paarbegegnungen „Neurons“ zu einem Stück Nacht, in der nur der Mensch den Menschen zu retten vermag.

Ins Gewicht fällt Neuronen-Nebulöses besonders an einem Abend, den ein Hans van Manen eröffnete. Auch „Kammerballett“ ist eines seiner makellosen Bewegungswunder, das direkt zum Zuschauer spricht, das mit den Händen der Tänzer Gedankenstriche, Ausrufe- und Fragezeichen platziert.

Macht macht müde, Nähe wird zum Bedürfnis

1995 für das Nederlands Dans Theater (NDT) entstanden, wirkt es in der Klarheit seiner Linienführung, der Transparenz seiner Struktur, der Souveränität, mit der es den Tanz hoch erhobenen Hauptes der Musik von Kara Karajew und Domenico Scarlatti begegnen lässt, so jung und frisch, als sei es just für diesen Moment geschaffen. Als sei die Eigenwilligkeit, mit der acht Tänzer im engen Rund eines Lichtkegels Raum für ihren Hocker beanspruchen, eine direkte Antwort auf aktuelle Widrigkeiten.

Wunderbar zeigen die Tänzer um Alicia Amatriain, wie Macht müde macht – so sehr, dass Nähe nicht nur eine Möglichkeit, sondern sogar Bedürfnis wird. Schön aufmüpfig, dann das Gefühl der Gemeinschaft auskostend, tanzen es die acht Stuttgarter, allen voran Pablo von Sternenfels als kanariengelber Wirbelwind. Zur Freude Hans van Manens, der es sich nicht nehmen ließ, selbst den Applaus in Stuttgart abzuholen.

Nicht umsonst hatte ihn Marcia Haydée einst wie einen Haus-Choreografen mit der Kompanie verbunden, der er auch unter ihrem Nachfolger Reid Anderson treu bleibt und beim Ausbau seines Repertoires in Stuttgart hilft, damit es weiterhin das größte außerhalb der Niederlande bleibt.

Glen Tetley wirft sechs zornige Männer in den Ring

Zudem stand mit „Arena“ ein Ballett auf dem Programm, das zu einer Zeit entstanden war, als van Manen gemeinsam mit Glen Tetley das NDT leitete. Ein Jahr nach den Studentenunruhen 1968 warf Glen Tetley sechs zornige Männer in den Ring.

Auch heute, wenn Jason Reilly, Daniel Camargo und Constantine Allen zum ersten Mal die Obermachos geben, sorgen Rebellion und Aggression, fliegende Fäuste und Stühle, sexuelle Energie und animalische Attacken für gefährliche Unterströmungen, auch wenn der Tanz im für Tetley typischen Mix aus klassischem Ballett und Modern Dance den letzten Rest Beherrschtheit nicht preisgibt. Die Zerstörung des Körpers, wie sie Francis Bacons Bilder ausmalen, deuten weiß getünchte Körper, blutrot abgesetzte Achselhöhlen nur an.

Dieses Stück, zur selben Zeit wie „Der Widerspenstigen Zähmung“ erarbeitet, muss 1973, ein halbes Jahr nach John Crankos Tod, mit der seiner Zeit weit vorauseilenden, synthetischen Klangkulisse Morton Subotnicks wie ein Asteroid in Stuttgart eingeschlagen haben. 1974 machten die Stuttgarter dann Tetley zu ihrem Ballettdirektor – und sind, dank choreografischer Stimmen wie der von Katarzyna Kozielska, bis heute das „schöpferische Zentrum“, das Glen Tetley einst als lebensnotwendig für diese Kompanie postuliert hat.

Weitere Vorstellungen am 9. und 11. März sowie am 12., 14., 29. und 30. April