Gudrun und Werner Schretzmeier können über die ganze Stadt blicken. Foto: Achim Zweygarth

Die Eheleute Schretzmeier sprechen über den Sound der Neuen Weinsteige – der offenbar auch beflügeln kann.

S-Süd – Seit 41 Jahren wohnen die Kostümbildnerin Gudrun Schretzmeier und der Theaterhaus-Chef Werner Schretzmeier direkt an einer der Haupteinfallstraßen der Stadt. An dem 1906 erbauten Haus rauschen täglich Tausende von Fahrzeugen vorbei, dafür überblicken die beiden von ihrer 100-Quadratmeter-Wohnung aus fast ganz Stuttgart. Das Potenzial der Neuen Weinsteige werde nicht begriffen, meinen die gebürtigen Schorndorfer.


Frau Schretzmeier, Herr Schretzmeier, wie lebt es sich an einer vierspurigen Straße hinter Fenstern mit Vierfachverglasung?
Gudrun Schretzmeier: What a beautiful sound, ich höre das Meer rauschen!
Werner Schretzmeier: Wenn ich in unserer Berliner Wohnung bin, fehlt mir dieser Grundton. In der Weinsteige spürt man den Pulsschlag der Stadt, das ist auch für meine Arbeit wichtig. Ich wollte die Wohnung keine Sekunde lang gegen ein Haus auf dem Land tauschen. Früher war der Lärm im Übrigen viel größer, in den siebziger Jahren fuhren die Autos noch über Kopfsteinpflaster.

So lange leben Sie schon hier?
Gudrun Schretzmeier: Ja, seit 1971. Zuerst haben wir vier Jahre lang an der Neuen Weinsteige 45 gewohnt, 1975 sind wir ein paar Häuser hochgezogen.

Wie kommt man überhaupt auf die Idee, an eine solche Schneise zu ziehen?
Gudrun Schretzmeier: Das hatte auch etwas mit Werners Aussehen zu tun. Wenn ich bei Vermietern angerufen habe, lautete meine erste Frage: ‚Nehmen Sie auch langhaarige Männer?‘ Denn viele in dieser Stadt reagierten aggressiv auf langhaarige Männer. Die Vermieterin an der Weinsteige 45 war da etwas toleranter.

Trotzdem sind Sie 1975 dort ausgezogen?
Werner Schretzmeier: Das waren bewegte Zeiten damals. Jemand hatte behauptet, eine Terroristin sei mit dem Taxi vorgefahren und in 45 verschwunden. Das war natürlich totaler Quatsch, aber die Polizei hat das komplette Haus umstellt. Die Vermieterin war nicht gerade begeistert. Sie sagte „Menschenskinder, ich habe euch doch eigentlich gerne, aber . . .“ Es war schon klar, was sie damit meinte.
Gudrun Schretzmeier: Über Kontakte haben wir die Wohnung in 51 gefunden, die einem Architekten aus Murrhardt gehört. Vorher hatte hier die Stuttgarter Zeitung Redaktionsräume. Als die vielen Regale weggeräumt waren, habe ich gemerkt, dass die Altbauwohnung eine echte Perle ist – und dieser Ausblick!
Werner Schretzmeier: Dort sind die Filderstraße und der Marienplatz, weiter links die Liststraße und dort die Wielandshöhe, Vincent Klink und ich könnten uns mit Taschenlampen zufunken. Von der Küchenveranda aus kann ich mit dem Fernglas den Kamin des Theaterhauses sehen. Wenn der noch steht, weiß ich: alles ist in Ordnung. Und nach hinten raus ist es relativ ruhig, vom Balkon aus blicken wir ins Grüne zum Bopserwald. Leider sind in den vergangenen Jahren diese riesigen Villen mit Marmorgaragen gebaut worden, pervers. Und das Alte Zollhaus neben unserem Haus haben sie einfach abgerissen.

Für Fußgänger ist der Weg hinauf beschwerlich und auch umständlich, weil der Bürgersteig auf der Höhe Bopserwaldstraße abrupt endet. Haben Sie einen Geheimtipp?
Gudrun Schretzmeier: Nachts gehe ich hier nicht mehr alleine hoch. Früher gab es einen ganz normalen Gehweg an der Straße entlang, jetzt muss man durch die Weißenburganlage laufen. Ich habe mich bei der Stadt beschwert, die Antwort war damals, man stelle mehr Laternen auf. Als ob das für uns Frauen eine Lösung wäre! Jetzt nehme ich abends immer ein Taxi, aber die Taxifahrer beschweren sich, es sei unmöglich, hier zu halten.
Werner Schretzmeier: Es ist eine mittlere Katastrophe, die Straße zu überqueren oder an ihr entlangzulaufen. Ein Ärgernis sind auch die Werbefahrzeuge, die teilweise monatelang hier parken. Neulich stand die Stretchlimousine vom Michael Gaedt vor dem Haus. Er wollte mich sicher daran erinnern, dass er mit der Kleinen Tierschau mal wieder im Theaterhaus auftreten könnte. Von der Nachhaltigkeit her ist es jedenfalls ein absoluter Treppenwitz, dass man die Neue Weinsteige in den siebziger Jahren zur vierspurigen Rennstrecke ausgebaut hat. Dabei hätten wir in Stuttgart San-Francisco-Flair haben können, wenn man sich damals dafür entschieden hätte, einen Auto- statt eines Straßenbahntunnels zu bauen. Wie toll wäre es gewesen, Stadtbahn, Rad- und Fußwege oben zu belassen und den Straßenverkehr nach unten zu verlagern!
Gudrun Schretzmeier: Aus der Neuen Weinsteige wäre eine weltberühmte Strecke geworden, eine touristische Attraktion! Und an Silvester könnten sich Zehntausende auf der Straße treffen, das wäre eine große Show. Hier wäre die Stadt komplett erlebbar. Wie fantastisch das sein kann, haben wir an den autofreien Sonntagen während der Ölkrise 1973 erlebt. Es war herrlich, alle hatten gute Laune. Und für Radfahrer ist die Strecke ja nicht so steil wie die Alte Weinsteige.

Nun ist es ja anders gekommen. Genießen Sie bei dem Krach überhaupt die traumhafte Aussicht vom Westbalkon?
Werner Schretzmeier: Wir sind ja keine Hausbewohner im klassischen Sinne, Gudrun ist wegen ihrer Filmarbeit oft in Berlin oder anderswo, und ich komme meist spät heim. Aber abends sitzen wir schon ab und zu auf dem vorderen Balkon – auch wenn dann immer die Rodeofahrer mit den Doppelkennzeichen zur Weinsteig-Rallye anrücken.
Gudrun Schretzmeier: Durch die Radarkästen ist es etwas besser geworden. Und als es noch den 66er Puff gab, war es auch schlimmer.
Werner Schretzmeier: Du meinst den Sauna-Club . . .
Gudrun Schretzmeier: Dafür hören wir jetzt auf der anderen Seite vom Schlafzimmerbalkon aus den Partykrach im Weißenburgpark.

Herr Schretzmeier, mal angenommen, natürlich ganz theoretisch, Sie gehen irgendwann in den Ruhestand. Wollen Sie hier wohnen bleiben?
Werner Schretzmeier: Wenn man von der Haltestelle Bopser hochläuft, kommt man schön ins Schwitzen. Bis in unsere Wohnung sind es noch einmal exakt 100 Stufen. Das kann man sicherlich nicht ewig machen, aber darüber denke ich noch nicht nach. Eines aber steht für uns fest: aufs Land geht es auf keinen Fall. Ich komme von dort. Das soll es auch gewesen sein.