Weitblick: Ayse Özbabacan auf dem Balkon der Integrationsabteilung im Tagblattturm. Foto: Lichtgut/Leif Piechowski

Sie war sechs Jahre alt, als sie aus Anatolien nach Stuttgart kam. Sie weiß aus eigener Erfahrung, was Integration, aber auch was Benachteiligung bedeutet. Nun wird Ayse Özbabacan neue Integrationsbeantragte der Landeshauptstadt. Eine Erfolgsgeschichte.

Wer sein Geschäft von Grund auf beherrscht, von dem sagt man, er habe es von der Pike auf gelernt. Bei Ayse Özbabacan ist das so, mit einer ganz persönlichen Komponente noch dazu: Die 50-Jährige, die im April das Amt der Integrationsbeauftragten der Stadt Stuttgart übernimmt, hat selbst einen Integrationsprozess durchlaufen.

 

Geboren wurde sie in der Türkei, in einer Mittelstadt in Anatolien. Ihr Vater kam in den 1970er Jahren als Gastarbeiter nach Stuttgart. 1981 zog die Mutter mit den Kindern nach, da war Ayse Özbabacan sechs Jahre alt. „Ich musste schnell Deutsch lernen“, erzählt sie. „Ich musste von klein auf Integrationsarbeit leisten, für mich, für meine Familie und für mein Umfeld.“ Das hieß, andere etwa bei Behördengängen zu begleiten und zu übersetzen. Ayse Özbabacan weiß, wie entscheidend das Beherrschen der Sprache ist. „Bildung ist das A und O.“

Ayse Özbabacan hat selbst viel Unterstützung erfahren

Ihre Eltern sahen das auch so, die fünf Kinder sollten es besser haben. Das hat Ayse Özbabacan beherzigt. Sie hat ausgiebig gelesen, war „viel in der Stadtbücherei“, in der Schule hat sie sich mächtig angestrengt. Schon in der Grundschule ist das den Lehrkräften aufgefallen und sie haben die fleißige Schülerin unterstützt.

Ganz besonders eine Grundschullehrerin, die in der Nachbarschaft wohnte. Sie hat das Mädchen an die Hand und auch mal mit ihren Kindern zum Wandern in die Region mitgenommen. „Von ihr habe ich mein erstes Lexikon geschenkt bekommen“, erinnert sich Ayse Özbabacan. „Heute nennen wir das Empowerment.“

An die Schule hat sie gute Erinnerungen. Ayse Özbabacan schaffte es aufs Gymnasium, wo man damals noch nicht viele Migrantenkinder antraf, und machte Abitur. Dennoch weiß sie auch, was Benachteiligung und Diskriminierung bedeutet. „Die Türen standen nicht immer offen.“ Das erlebte das Mädchen insbesondere, wenn sie andere aus der Familie oder dem Umfeld als Dolmetscherin bei Behördengängen begleitete.

Nach dem Abitur wollte sie studieren, „irgendwas mit Europa“, das war klar. Von Europa war schon die Pennälerin „fasziniert“. Die junge Frau wählte Rechtswissenschaften an der Universität Tübingen. Bald machte sie mit ihrer Liebe zu Europa ernst und ging für Europastudien ins Ausland. Sie studierte im belgischen Antwerpen und im niederländische Groningen. Noch heute spricht Ayse Özbabacan Niederländisch. Ihr Berufsziel damals: ein Job bei der EU-Kommission in Brüssel.

Klares Statement: Lob der Vielfalt Foto: Lichtgut/Leif Piechowski

Der Traum verblasste, als sie 2006 in die Stuttgarter Stadtverwaltung kam. Auch damals war die Arbeit von Ayse Özbabacan noch stark auslandsorientiert. Es war die Zeit, als Oberbürgermeister Wolfgang Schuster in seiner Stabsstelle das Thema Integration forcierte, auch mit internationalen Bezügen. Özbabacan koordinierte ein Netzwerk von 30 europäischen Städten zur lokalen Integrationspolitik. Dabei stellte sie fest: „Die Niederländer und auch die Engländer waren viele weiter.“ Aber auch das Konzept im Stuttgarter Bündnis für Integration hatte einiges zu bieten für andere europäische Kommunen. „Für Dublin war das Stuttgarter Bündnis eine wichtige Grundlage der Integrationsarbeit, Athen hat einen Migrationsrat nach dem Vorbild des Internationalen Ausschusses in Stuttgart initiiert“, erzählt Ayse Özbabacan.

Geprägt hat sie auch die Zeit als Fellow der Bosch-Stiftung und des German Marshall Funds, einer Denkfabrik in Washington, wo sie die US-amerikanischen und durch die Zusammenarbeit mit Toronto auch die kanadischen Verhältnisse kennenlernte. „Die waren viel weiter in der Willkommenskultur und hatten Welcome Center als Erstanlaufstelle für Neuzugewanderte“, erzählt sie. „Diese Idee konnte ich mitnehmen für unser späteres Welcome Center.“

Inzwischen wollte Ayse Özbabacan in Stuttgart bleiben. Nicht irgendwo am Schreibtisch wollte sie sitzen, sondern „auf lokaler Ebene was bewirken, rausgehen, Integrationsarbeit machen, beim Netzwerken Menschen zusammenzubringen“. Zu ihren Aufgaben gehörte die interkulturelle Öffnung der Verwaltung, sie kümmerte sich um Migrantenökonomie und um den interkulturellen Dialog. Ein großes Anliegen war und ist ihr, dass Migrantenfamilien mit Kindern, die eine Behinderung haben, Zugang zu den Hilfen finden. 2015 wurde sie für ein Jahr ins Staatsministerium abgeordnet für das Projekt Sonderkontingent Nordirak zur Aufnahme jesidischer Frauen und Kinder, die von der Terrormiliz IS bedroht waren.

Zufrieden blickt Ayse Özbabacan zurück auf die Einbürgerungskampagne der Stadt („ein unglaublicher Erfolg“) und auf die Kampagne „Deine Stadt – Deine Zukunft“ von 2009. „In wenigen Jahren“ sei der Anteil der Migranten unter den Azubis bei der Stadt von 17 auf 40 Prozent gestiegen. Auch mit der Einrichtung des Welcome-Centers in der Zeit von OB Fritz Kuhn sei Stuttgart „vorne mit dabei gewesen“. Und das solle so bleiben, sagt Özbabacan. Deshalb freue sie sich über die von Frank Nopper angestoßene Standortdebatte für ein Haus der Kulturen.

Inzwischen aber hat sich die Lage verändert. Wenn die 50-Jährige im April die Abteilungsleitung von Gari Pavkovic übernimmt, der das Amt 24 Jahre innehat und dessen Stellvertreterin sie seit 2019 ist, wird Integration unter erschwerten Bedingungen stattfinden. „Wir werden weniger Geld bekommen und wir müssen trotzdem eine gute Integrationsarbeit leisten“, macht Ayse Özbabacan deutlich.

„Wir haben sehr gute Zeiten gehabt“, betont sie, „jetzt müssen wir realistisch sein“. Man müsse einiges auf den Prüfstand stellen. „Das wird uns viel abverlangen.“ Sie macht aber auch klar: Bei der Sprachförderung, wie es der Bund nun tut, dürfe man nicht sparen, das hätte „fatale Folgen“, ist Ayse Özbabacan überzeugt. Ohne ein gewisses Sprachniveau könnten die Menschen wirtschaftlich nicht nachhaltig Fuß fassen.

Entscheidend sei heute: „Jeder muss Verantwortung übernehmen und zum gesellschaftlichen Zusammenhalt beitragen“, betont die Integrationsexpertin. „Wir müssen Hand in Hand arbeiten.“ Auch die Migranten-Communities will sie noch stärker in die Arbeit einbeziehen. Stichwort: Empowerment. Davon ist sie überzeugt, seit sie 2016 in Göteborg in einem Flüchtlingscamp war. Dort lebten 2000 Geflüchtete, es gab aber nur eine Handvoll Sozialarbeiter. Das funktionierte nur durch die Selbstorganisation der Geflüchteten. Danach hat man in Stuttgart „Flüchtlingsdialoge“ eingeführt, erzählt Ayse Özbabacan, „Dialoge auf Augenhöhe, um mit den Menschen über den Integrationsprozess ins Gespräch zu kommen und sie zu stärken, ihre Kompetenzen und Ressourcen für die eigene Integration, aber auch für die Stadtgesellschaft einzubringen“.

„Wir brauchen wieder ein positives Narrativ“

Und die künftige Integrationsbeauftragte hofft, dass sich die gesellschaftliche Stimmung beim Thema Migration wieder verbessert. „Wir brauchen wieder ein positives Narrativ, ein Wir-Gefühl“, sagt sie. Es gebe allen Grund, „stolz auf unsere Willkommenskultur zu sein“, findet Ayse Özbabacan. Mit negativen Debatten wie derzeit „vergraulen wir viele Fachkräfte“, ist sie überzeugt. Und gibt ein Beispiel für die möglichen Folgen: „Wenn keine Pflegekräfte mehr kommen, haben wir alle ein Riesenproblem.“