Neuer Schultyp, neue Unterrichtsformen. In Bad Boll sind alle Beteiligten zufrieden Foto: Horst Rudel

Fünf Schulen sind vor drei Jahren als Pioniere des neuen Typs gestartet, mittlerweile sind es in der Region 51, und alle sind ausgelastet. An diesem  Montag verkündet das Kultusministerium, wo die nächsten an den Start gehen.

Stuttgart - Smilla hat viele Freundinnen in ihrer Klasse. Die Mädchen verbringen die freien Nachmittage miteinander. Smilla liest gerne. Und sie lese so gut wie jede andere Viertklässlerin auch, sagt ihr Vater Gerfried Riekewolt. Nur beim Rechnen hapert es. Das hat Smilla nicht exklusiv. Smilla hat Trisomie 21. Trotzdem besucht sie die Heinrich-Schickhardt-Schule (HSS) in Bad Boll (Kreis Göppingen) wie 531 andere Kinder. Smilla wird an der Schule bleiben – und hofft, dass sich viele ihrer Freunde nicht für die Realschule oder das Gymnasium entscheiden.

Die Grundschule mit Werkrealschule wurde vor drei Jahren zur Gemeinschaftsschule – als eine der fünf ersten in der Region Stuttgart. An diesem Montag verkündet das Land, welche Schulen vom kommenden September an alle Kinder gemeinsam lernen lassen sowie das Sitzenbleiben und das Zensurenwesen abschaffen wollen. Bei den Eltern stoße die Gemeinschaftsschule auf Anklang, sagt der HSS-Elternbeiratsvorsitzende Riekewolt. Allerdings sei die Konstellation in Bad Boll auch besonders günstig. „Man will es“, betont er. „Ich habe den Eindruck, manche Schulen fühlen sich dazu gezwungen.“ Die Abkehr vom Frontalunterricht bedeute eine Umstellung sowohl für die Lehrer, die das Unterrichten anders gelernt hätten, als auch für Eltern, die anderes erwarteten.

In Bad Boll hat man Erfahrung mit dem Lernen in heterogenen Gruppen. So gibt es dort nach Angaben des Schulleiters Thomas Schnell seit 1998 inklusiven Unterricht. Knapp acht Prozent der Schüler haben ein Handicap. Doch vom Modell Gemeinschaftsschule profitierten alle, meint der 47-Jährige. Allein „das Joch der Noten nicht mehr zu haben ist eine Befreiung“. Statt der Zeugnisse gibt es Lernentwicklungsberichte, in denen 130 Kompetenzen bewertet werden. Dazu gehört im Fach Deutsch, Texte verstehen und präsentieren zu können. Dazu gehört aber auch, wie argumentiert wird und ob Anstandsregeln eingehalten werden.

Im ersten Jahr hatte die HSS 66 Gemeinschaftsschüler, 2013/2014 waren es 90. Im aktuellen Schuljahr „haben wir bei hundert Bewerbungen aufgehört zu zählen“. Nur 75 Schüler wurden zugelassen. „Wir müssen alle Strukturen dem Gemeinschaftsschulgedanken unterwerfen“, sagt Schnell. Dabei sind unkonventionelle Lösungen gefragt. In Korb (Rems-Murr-Kreis) etwa werden die Grundschüler auf Kosten der Gemeinde im Taxi zum Hort am 800 Meter entfernten zweiten Schulstandort gefahren. Seit Herbst gehört die Grundschule zur Gemeinschaftsschule.

Der Bad Boller Bürgermeister Hans-Rudi Bührle sieht durch die Gemeinschaftsschule die Gemeinde als Schulstandort gestärkt – ein Plus im Wettbewerb der Kommunen: Schließlich seien bis zum Jahr 2012 die Jugendlichen aus dem Voralbgebiet, die eine Realschule oder ein Gymnasium besucht hätten, nach Göppingen gefahren. Die Aufwertung lässt sich Boll etwas kosten. Etwa eine halbe Million Euro schießt die Gemeinde für den Betrieb der HSS zu. Und nicht einmal ein Drittel der Personalkosten für die Betreuung der 41 Kinder mit Handicap bekomme das Rathaus vom Land erstattet.

Die Gemeinschaftsschule im Eichholz in Sindelfingen gehört ebenfalls zu den Pionieren. Die Rektorin ist absolut überzeugt von dem Modell. „Darauf haben wir lange gewartet“, sagt die 59-Jährige. In der fünften Klasse gibt es 46 Gemeinschaftsschüler, in den Klassen sechs und sieben sind es je 53. Wer Gemeinschaftsschule werden will, muss nachweisen, dass sich jedes Jahr mindestens 40 Kinder anmelden. Denn das Modell funktioniere nur von einer bestimmten Größe an. Noch im Juli rechnete man im Eichholz mit weniger Fünftklässlern – und fünf anderen der zehn Gemeinschaftsschulen im Kreis Böblingen ging es ebenso.

Etwa zehn Prozent derer mit Gymnasialpotenzial, schätzt Kölbl, entscheiden sich für das Gemeinschaftsmodell. Sie erzählt von einem Mädchen, sehr schüchtern und zurückhaltend. Das Kind sei in der Gemeinschaftsschule aufgeblüht, persönlich und leistungsmäßig – so dass die Eltern ihr Kind nach der fünften Klasse abmeldeten: Nun schaffe das Mädchen auch das normale Gymnasium.

Angesichts sinkender Schülerzahlen geht es auch ums Überleben. In Ludwigsburg etwa rechnet man damit, dass von sechs Haupt- oder Werkrealschulen langfristig eine übrig bleibt. Noch hat die Stadt keine Gemeinschaftsschule. Allerdings hofft man, auf des Kultusministers Liste zu stehen. Im Kreis Ludwigsburg haben auch Kirchheim am Neckar, Bietigheim-Bissingen und Steinheim einen Antrag gestellt.

Nicht überall ist die Begeisterung für die neue Schulart gleich. In Kirchheim/ Teck etwa schnappt man gerade mächtig nach Luft. Dort sollen zwei Schulen zu einer Gemeinschaftsschule zusammenwachsen, so ist es beantragt. Mit 16 Millionen Euro hatte man kalkuliert, nun ist von 30 Millionen die Rede.Und Esslingen, wo man schon vor drei Jahren für ein Zweisäulenmodell aus Gemeinschaftsschule und Gymnasium plädiert hatte, hat nun für gleich drei Schulen den Umstieg beantragt. Der Erklärungsbedarf bei der Elternschaft aber scheint enorm: „Es herrscht eine große Unsicherheit“, sagt Aglaia Handler, Vorsitzende des Esslinger Gesamtelternbeirats.