Behinderte mit elektrischen Rollstühlen müssen auch bei den neuen S-Bahnen darauf warten, dass ihnen der Fahrer eine Rampe anlegt Foto: Michele Danze

Jahrelang hat die Bahn den Eindruck erweckt, dass der problematische Schiebetritt zur Überbrückung des Spalts zwischen S-Bahn und Bahnsteig ein Hilfe für Rollstuhlfahrer sei. Dafür ist er aber gar nicht vorgesehen.

Stuttgart - „Die neuen Fahrzeuge (. . .) sind bundesweit Vorreiter bei den Standards für mobilitätseingeschränkte Menschen. (. . .) Die neuen Schiebetritte helfen, den Abstand zwischen Fahrzeugkante und Bahnsteigkante (‚Spalt‘) zu überbrücken.“ Wegen Formulierungen wie dieser aus einer Pressemitteilung von Bahn und Verband Region Stuttgart vom 25. April 2013 wurde vielfach geschrieben, dass der Schiebetritt vor allem das Leben von Rollstuhlfahrern und Eltern mit Kinderwagen erleichtern soll. Stimmt gar nicht, sagte jüngst Angelika Bochnig unserer Zeitung: „Für meinen elektrischen Rollstuhl mit 150 Kilo Gewicht plus mein Körpergewicht ist so ein Brettchen nicht geeignet, und für normale Rollstühle reicht das auch nicht.“

Die 59-Jährige, die seit zwei Jahren als Testperson der Arbeitsgemeinschaft barrierefreies Winnenden aktiv ist, betont, dass für sie nur die Rampe infrage kommt, die der Fahrer hinter dem Führerstand anlegen kann. Insofern erhöht das „besondere technische Schmankerl“, wie es in einem Bahn-Flugblatt vom Januar 2012 heißt, den Standard für mobilitätseingeschränkte Menschen nicht: Die Rampe gibt es auch schon beim Vorgängermodell des neuen ET 430: dem ET 423, der bisher auf der S 1, S 2, S 3 und mittlerweile auf der S 4, S 5 und S 6 unterwegs ist. „Für Rollstuhlfahrer sehe ich keine Verbesserung beim Zugang zu dem neuen Zug, aber auch keine Verschlechterung“, sagt Bochnig, die in der S 3 ab Winnenden auch bisher schon die Rampe in Anspruch nehmen konnte.

„Die Schiebetritte ersetzen nicht die Rampenlösung für Rollstuhlfahrer“, räumt ein Bahn-Sprecher auf die konkrete Frage ein. Und: „Sie dient zur Spaltminimierung zwischen S-Bahn und Bahnsteig.“ Damit es Kinder oder Ältere, die nicht mehr gut zu Fuß sind, nicht so weit in den Zug haben. Auch Eltern mit Kinderwagen könnte der Tritt das Leben erleichtern. Für Immo von Fallois, Sprecher der Deutschland-Tochter des kanadischen Herstellers Bombardier, ist der Schiebetritt lediglich ein „Komfortmerkmal und kann von allen Fahrgästen genutzt werden“.

Infrastrukturdirektor Jürgen Wurmthaler vom Verband Region Stuttgart, der die Anforderungen an die Züge festgelegt hat, misst dem Schiebetritt mehr Bedeutung zu. „Es gab auch schon Unfälle am Bahnsteig, wo Kinder oder Erwachsene in den Spalt gerutscht sind. Deshalb sehe ich den Tritt schon als Beitrag zur Sicherheit der S-Bahn.“ Deshalb sei es auch wichtig, dass es an jeder Tür einen Schiebetritt gebe.

Immerhin gibt Verkehrsexperte Wurmthaler zu, dass auch er anfangs davon ausgegangen sei, dass der Schiebetritt gut für Rollstuhlfahrer ist. „Ich hätte nicht gedacht, dass Elektrorollstühle solche Probleme damit haben“, sagt er. Wurmthaler verweist aber auch darauf, dass es durchaus Behinderte mit handbetriebenen Gefährten gebe, die sogar die Spalte überwinden könnten und wohl auch den Schiebetritt nutzen. „Wer es nicht kann, für den gibt es die Rampe“, sagt der 52-Jährige.

Doch zunächst einmal müssen die ausfahrbaren Überbrückungen überhaupt funktionieren. Nachdem die ersten beiden Fahrzeuge des Modells ET 430 im April 2013 in Stuttgart angekommen waren, gab es bald die ersten Probleme. Immer wieder meldete der Bordcomputer Störungen an der Tür, die mit diesem Bauteil zu tun hatten. Es kam auch mehrfach vor, dass ein Schiebetritt gar nicht mehr eingefahren werden konnte und deshalb ein Zug im Innenstadttunnel liegen blieb. Die Folge waren massive Verspätungen im gesamten Netz, so dass die Bahn die ersten 13 neuen Züge im Juli jenes Jahres wieder aus dem Verkehr zog.

Im Dezember kehrte der ET 430 zurück – mit eingefahrenem Schiebetritt. Seit Januar dieses Jahres sind nun alle 87 Exemplare auf den Linien S 1, S 2 und S 3 unterwegs. Bombardier arbeitet derweil zusammen mit dem französischen Zulieferer Faively Transport an einer Lösung für den Schiebetritt. In den Nächten zum vergangenen Dienstag und Mittwoch fuhren nach Angaben von Bombardier-Sprecher von Fallois außerhalb der Betriebszeiten zwei Kurzzüge mit jeweils 150 Testpersonen durchs S-Bahn-Netz. Die Testfahrer unterzogen die Schiebetritte dem Vernehmen nach einem echten Belastungstest, über dessen Ergebnisse von Fallois noch nichts sagt.

So oder so werden die gelb markierten Teile noch lange auf sich warten lassen. Wenn die Änderungen an der Software und an der Verriegelungsmechanik Früchte tragen und den Segen der Bahn-Ingenieure bekommen, muss Bombardier das Ganze beim Eisenbahn-Bundesamt zur Genehmigung vorlegen. Danach benötigt die Firma nach früheren Angaben 18 Monate für die Nachrüstung der 87 Züge, um den laufenden Betrieb nicht zu gefährden. Mittlerweile ist sogar von zwei Jahren die Rede, so dass es auch 2018 werden könnte, bis die Flotte in vertragsgemäßem Zustand ist. Rollstuhlfahrerin Bochnig dagegen würde gerne auf die Schiebetritte verzichten: „Die stören furchtbar.“