Laut dem neuen Bericht der internationalen Lancet-Kommission gibt es 14 Risikofaktoren, die die Wahrscheinlichkeit erhöhen, dement zu werden. Kann man einer Demenz somit wirklich vorbeugen? So einfach ist es leider nicht.
Hohe Blutfettwerte schaden den Gefäßen und so der Durchblutung. Nachlassende Sehkraft führt zu Unsicherheit, Rückzug – und letztlich zu sozialer Isolation. Beides beeinflusst nachweislich die Gesundheit des Gehirns. Die Lancet-Kommission, ein internationales Team von Demenzforschern, hat in ihrem neuen Bericht daher die bekannten zwölf Risikofaktoren für eine Demenzerkrankung um zwei erweitert: einen hohen LDL-Cholesterinspiegel und Sehprobleme.
Würde man alle 14 in der Liste aufgeführten Faktoren wie Alkoholkonsum, Rauchen, Bluthochdruck, Bewegungsmangel und Übergewicht ausschalten, könnten nach Ansicht der Fachleute 45 Prozent der weltweiten Demenzfälle verhindert oder zumindest verzögert werden. Klingt fast zu schön, um wahr zu sein – und es ist in der Realität tatsächlich nicht so einfach, wie es der Report vermuten lässt.
Demenz-Bericht ist „Modellrechnung“
So schätzt Stefan Teipel, Forscher am Deutschen Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen in Rostock, die in dem Bericht angegebene Zahl als „theoretisch und aufsummiert“ ein. Steffi Riedel-Heller vom Institut für Sozialmedizin und Public Health am Uniklinikum Leipzig spricht von „Modellrechnungen“. Nach Ansicht seines Kollegen Klaus Ebmeier, Professor für Alterspsychiatrie in Oxford, führen Schlagzeilen wie „Die Hälfte aller Demenzerkrankungen ist vermeidbar“ zu falschen Hoffnungen. Zudem werde der Eindruck erweckt, Demenz sei zumindest teilweise „eine Lifestyle-Choice, weil sich die Patienten nicht ausreichend um ihre Gesundheit gekümmert haben“. Von „selbst schuld“ könne aber nicht die Rede sein, ergänzt Kathrin Finke, psychologische Leiterin des Gedächtniszentrums im Uniklinikum Jena: „Wer eine genetische Anlage für eine Demenz hat, wird erkranken.“
Dennoch: Auch wenn es bis heute keine Heilung für Demenzerkrankungen gibt, sind Fachleute davon überzeugt, dass man das Gehirn widerstandsfähiger machen und trainieren kann. Zum anderen lässt sich nach Ansicht aller Experten mit der Vermeidung von Risikofaktoren dem Verfall von geistigen Funktionen vorbeugen oder dieser zumindest verzögern.
Experten: Demenzprävention ist möglich
Neben den neu identifizierten hohen LDL-Cholesterinwerten ab etwa 40 Jahren und dem unbehandelten Sehverlust im späten Alter sowie den bereits genannten Faktoren Alkohol- und Zigarettenkonsum, Bluthochdruck, Bewegungsmangel, Übergewicht und soziale Isolation sind das: geringe Bildung, Depression, Diabetes, Kopfverletzungen, Luftverschmutzung und Hörverlust.
Die entscheidende Botschaft des Lancet-Reports ist laut Steffi Riedel-Heller: „Demenzprävention ist möglich!“ Für Menschen im mittleren Alter gilt laut Kathrin Finke: „Bei Hörproblemen schnell reagieren. In dem Alter kann man sich noch gut an ein Hörgerät gewöhnen.“ Wer weniger mitbekommt, zieht sich meist zurück – und Einsamkeit kann zu weniger Stimulation des Gehirns führen. Ganz entscheidend sei es daher, sozial aktiv zu sein. „Auch im hohen Alter kann man Kontakte auffrischen oder neue knüpfen, etwa in Seniorensportgruppen“, so Finke. Überhaupt sei Prävention durch gesunden Lebensstil wichtig.
Doch Vorbeugung ist nach Ansicht vieler Experten keine reine Privataufgabe. Bei Faktoren wie Luftverschmutzung oder Zugang zu Bildung sei die Politik gefragt. Klar sei zudem: „Präventionsprogramme, die jetzt schon im Hinblick auf kardiovaskuläre Erkrankungen bestehen, kann man auch in Hinblick auf Demenz stärken“, betont Stefan Teipel. „Was gut ist für die Herzgesundheit, ist auch für die Hirngesundheit gut.“
Keine EU-Zulassung für Lecanemab
Demenzforscher relativieren aber nicht nur den Lancet-Bericht. Sie üben auch Kritik daran, dass die Europäische Arzneimittelagentur (EMA) vor wenigen Tagen die Zulassung von Lecanemab abgelehnt hat – wegen zu starker Nebenwirkungen. „Das ist eine Enttäuschung“, so Finke. „In der Forschung wurde jahrzehntelang auf ein derartiges Mittel gehofft und hingearbeitet.“ Eine Heilung sei zwar auch mit Lecanemab in weiter Ferne. Trotz Nebenwirkungen könne es aber bei noch relativ leichten Beeinträchtigungen den Verlauf verzögern. „Ich bin mir sicher, dass nun reiche Menschen mit Alzheimer im Frühstadium zur Behandlung in die USA oder in andere Länder reisen“, fügt der Neurowissenschaftler John Hardy vom UK Dementia Research Institute hinzu.