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Grüne und SPD schließen Verhandlungen ab und präsentieren den Koalitionsvertra.

Stuttgart - Vier Wochen nach der Landtagswahl ist das grün-rote Bündnis fertig. Am Mittwoch wurde die Koalitionsvereinbarung präsentiert. Der Stresstest steht freilich noch bevor - auf Sonderparteitagen und ab Mitte Mai im Regierungsalltag.

Petrus kann kein Freund der neuen Landesregierung sein. Grüne und SPD hatten es sich so schön ausgemalt. Da wollten Winfried Kretschmann und Nils Schmid, der designierte Ministerpräsident und sein künftiger Stellvertreter, am Mittwoch über den Dächern von Stuttgart ihre Koalitionsvereinbarung präsentieren und damit aus der berühmten Halbhöhenlage der Landeshauptstadt den politischen Blick ins weite Land schweifen lassen. Und nun gießt es aus Eimern. Das Organisationsteam des Politzirkus muss die Proklamation in den Saal verlegen. Es ist eng, die Luft ist stickig, zwölf TV-Kameras stehen bereit, Phoenix will die Geburtsstunde der ersten grün-roten Koalition gar live übertragen.

Ein Spalier

Aber nicht nur das Wetter spielt an diesem Mittwochmittag nicht mit. Auch bei den Inhalten hakt es noch. "Die Pressekonferenz wird auf 12.30 Uhr verschoben", vermelden die Sprecher beider Parteien, als die versammelte Presse zur geplanten Uhrzeit um 12 Uhr unruhig wird. Der Grund spricht sich schnell herum. Die Grünen haben "noch Abstimmungsbedarf", wie es einer formuliert. Es geht darum, ob an diesem Tag nicht nur die neue politische Linie fürs Land erläutert wird, sondern ob man auch verkündet, wie die Ministerien zugeschnitten werden. "Das wird heute nichts mehr", hatte es noch am Morgen geheißen. Doch Grün-Rot will sich offenbar Schlagzeilen wie "Neue Koalition streitet um Kompetenzen" am nächsten Tag ersparen und zieht sich deshalb zurück. Nur einmal gehen die Türen kurz auf. Kretschmann, wie meistens mit grüner Krawatte, aber diesmal ohne Jacket, verschwindet kurz. Wie seine Kondition ist, wird er gefragt. "Gut", ruft er zurück. Dann herrscht draußen wieder Funkstille. Drinnen wird dafür viel diskutiert und telefoniert, die künftigen Koalitionäre tagen in getrennten Sitzungssälen. "Wir haben alles wohl überlegt und gründlich beraten", wird Kretschmann später diese Momente der Entscheidung umschreiben.

Und wirklich. Um kurz vor halb eins bildet sich im Haus der Architekten, wo Grüne und SPD in den vier Wochen seit der Landtagswahl um ihre politischen Ziele in den nächsten fünf Jahren gerungen haben, ein Spalier. Vertreter aus beiden Lagern stellen sich auf, dann schreiten die beiden führenden Köpfe des Bündnisses herein. Erst Kretschmann, dahinter Schmid, als Begleitmusik gibt's Applaus. Der künftige Ministerpräsident stößt keinen Seufzer der Erleichterung aus, aber ihm ist hör- und sichtbar anzumerken, wie er diesen Auftritt genießt: "Vor einem Monat hat Baden-Württemberg den Wechsel gewählt. Wir werden unter meiner Führung diesen Auftrag annehmen und kraftvoll gestalten."

Was folgt, ist eine Art Messe mit politischen Botschaften. Links und rechts der beiden Hauptakteure stehen die Mitglieder der Verhandlungsteams. Sie umklammern den druckfrischen Koalitionsvertrag mit dem Titel "Der Wechsel beginnt", als wollten sie ihn nicht mehr hergeben. Und lauschen dem 62-jährigen Kretschmann andächtig. Er spricht über die schwierige Finanzlage des Landes: "Auch in guten Zeiten wurden Schulden angehäuft." Er beklagt, dass "die soziale Schere immer weiter auseinandergegangen ist" und die bisherige CDU-FDP-Regierung "die Energiewende blockiert" habe. Seine Folgerung: "Die Wähler haben uns gewählt, um diesen Stillstand aufzulösen."

"Jetzt gilt es, die Ärmel hochzukrempeln"

Und damit die Bürger auch wissen, was sie nun erwartet, legt Kretschmann eine Art Masterplan für die Zeit bis 2016 vor. Dabei hebt und senkt er die Stimme, als ob er seinen Schwerpunkten besonderen Nachdruck verleihen möchte. Baden-Württemberg müsse "die Zukunftswerkstatt für eine ökologische und soziale Modernisierung" und "ein Musterländle für erneuerbare Energien" werden. Man werde "die Bildungschancengleichheit für alle schaffen" und durch die Streichung der Grundschulempfehlung oder den Ausbau der Kleinkindbetreuung und der Ganztagesschulen "die bisherigen Bildungsblockaden einreißen". Es sei das erklärte Ziel, den Landeshaushalt bis 2020 "nachhaltig zu konsolidieren" und ab diesem Datum keine neuen Schulden mehr zu machen. Und: "Wir werden neue Formate der Bürgerbeteiligung schaffen." Nein, ergänzt Kretschmann endlich etwas schmunzelnd, niemand müsse sich Sorgen machen, "dass aus Baden-Württemberg jetzt der größte Debattierclub wird".

Wahlalter

Dass freilich nicht alles geht, was mancher gerne hätte, wird beim Blick in die Koalitionsvereinbarung deutlich. Da hatten Übereifrige hineingeschrieben, das Wahlalter bei Kommunal- und Landtagswahlen auf 16 Jahre zu senken. Nur, auf Landesebene geht das nicht so leicht. Also hat man quasi in letzter Minute diese Passage geschwärzt. An Kretschmanns Haltung zu mehr Bürgerbeteiligung ändert das alles nichts. Und damit jeder im Saal merkt, dass es ihm ernst ist mit mehr Demokratie, lädt er alle Baden-Württemberger zur Mitarbeit an der neuen Art von Politik ein. Auch die künftige Opposition von CDU und FDP. "Wir müssen die Schützengräben überwinden", sagt er mit fast pastoralem Unterton und meint damit die Gegensätze im Bildungsbereich.

Da mag sein künftiger Koalitionspartner nicht zurückstehen. Nun darf Nils Schmid, der Finanz- und Wirtschaftsminister werden soll, ans Mikrofon. Zwar presst er sein Wohlgefallen nicht mit dem Kretschmann-typischen oberschwäbischen Slang über die Lippen, aber Schmid ist überzeugt, dass aus dem Bündnis die erwartete Liebesheirat wird: "Ich bin stolz und glücklich, dass wir mit dem Politikwechsel beginnen." Man habe in den Koalitionsverhandlungen über leichte und schwere Themen geredet und stets eine Lösung gefunden. "Das ist ein Fundament, auf dem wir fünf Jahre vernünftig regieren können." Und doch, er weiß auch: "Es liegt ein hartes Stück Arbeit vor uns."

Dass er damit nicht nur das unter den Koalitionären höchst umstrittene Milliardenprojekt Stuttgart 21 meint, was an diesem Mittag auffällig selten erwähnt wird, liegt auf der Hand. Die Veränderungen, die man im Land erreichen wolle, seien "nicht einfach, aber möglich und nötig", betont der SPD-Vormann und nennt als Beispiel die Universitäten. Ja, betont der 37-Jährige freudig, die Studiengebühren würden ab dem Sommersemester 2012 abgeschafft, weil "wir es schaffen wollen, dass der Zugang zur akademischen Bildung nicht vom Geldbeutel abhängt". Aber Schmid geht es an dieser Stelle nicht nur ums Monetäre, sondern ums Prinzipielle. Und deshalb will er die Mitbestimmung an den Universitäten stärken. Das Schild "Hier endet der demokratische Sektor" solle es künftig nicht mehr geben.

SPD-Themen

Überhaupt, die sozialen Fragen, also die klassischen SPD-Themen. Über sie plaudert Schmid ganz ausführlich. Er verspricht, dass man sich auf Bundesebene für einen gesetzlichen Mindestlohn einsetzen wird, dass Firmen nur noch dann Aufträge vom Land erhalten, wenn sie sich an das Tariftreuegesetz halten, dass Mitarbeiter künftig pro Jahr fünf bezahlte Tage zur Fortbildung erhalten, dass die Mittelständler von bürokratischen Lasten befreit werden sollen, dass Baden-Württemberg "natürlich die Heimat des Automobils bleibt" (es darf als Seitenhieb gegen Kretschmanns Aussagen zum Automobilstandort verstanden werden), man auf Dauer im Automobil- und Maschinenbau aber auf Nachhaltigkeit setze, dass es nun doch mehr Mittel für die Landesstraßen gibt, und, und, und.

Kein Zweifel: Da spricht einer, der den Bürgern die Sorge nehmen will, die neue Landesregierung werde das Land umkrempeln. "Jetzt gilt es, die Ärmel hochzukrempeln und an die Arbeit zu gehen", lautet vielmehr seine Parole. "Ich freue mich auf die Arbeit und eine gute Partnerschaft", frohlockt Schmid. Fehlt nur, dass den beiden Vorkämpfern jetzt ein Glas Sekt gereicht wird. Aber so weit ist es noch nicht.

Erst einmal muss die Basis von Grünen und SPD bei Sonderparteitagen am 7. Mai die Koalitionsvereinbarung absegnen. Aber Kretschmann und Schmid haben offenbar keine Sorge, dass da noch etwas schiefgehen könnte. So verlassen sie zufrieden nach einer Stunde die Bühne. Die TV-Teams bauen ihre Kameras ab, Journalisten wie neugierige Parteigänger verlassen den Ort des Geschehens. Am Ausgang im Haus der Architekten liegt ein Stapel der Broschüre "Ein kleiner Architekturführer durch Stuttgart" im Regal. Das Deckblatt ist in Grün gehalten. Zufall. Aber es passt zu einem Tag, an dem Grüne und SPD das Fundament für ihre politische Arbeit gelegt haben.