Szene aus Brigitta Muntendorfs „iScreen, YouScream!“ Foto: Martin Sigmund

Auf besonders vielfältige Weise hat sich das Stuttgarter Eclat-Festival am Wochenende für Experimente der Neuen Musik geöffnet. Das Musiktheater stand dabei im Mittelpunkt.

Stuttgart - Ein Mann kocht. Eine Frau tanzt zu Beethovens Fünfter. Der Saxofonist Franky Cranky stellt sich vor und verweist ansonsten auf seine Homepage. Ein Klarinettist geht vor, zurück, nach rechts und nach links und spielt einen Triller. „Das ist soooooo schön!“, seufzt ein Cellogirl; es will zeigen, wie das Musizieren „besonders gut aussieht“. Ein Mann im Judoanzug bestätigt Loriots These: Natürlich kann auf einer Posaune Bratsche spielen. Und noch mehr Musiker treten in dem Musiktheater auf, das Brigitta Muntendorf (34) für das diesjährige Eclat-Festival komponiert hat: verkleidet, geschminkt, posierend, immer mit Blick auf die Kamera, vor der sie sich bewegen. Einzelwesen, verlorene Gestalten. Sie sind im Bild, aber nie im Bilde.

Schon am Eröffnungsabend hatte die Performance von Jagoda Szmytka bewiesen, wie schwierig und wie komplex das schlichte „Was bin ich?“ im Zeitalter der digitalen Medien und der von diesen generierten neuen Kommunikationsprozesse zu beantworten ist, und auch „iScreen, YouScream!“ umkreist diese Gretchenfrage der „Generation Y“. Franky Cranky, das Cellogirl und alle anderen sieht man nur auf den drei Leinwänden, die über der Bühne im Theaterhaus aufgehängt sind. Dort kommunizieren sie mit ihren Instrumenten und mit dem imaginären Betrachter, dort sind sie alleine mit sich selbst.

Musiktheater zwischen Analyse, Hingabe und ironischer Distanz

Sie sind aber im Raum: Auf der Bühne stehen quadratische, schwarze Boxen. Nach hinten hin sind diese offen, sodass der Mann, der mit seiner Kamera umherläuft, sie filmen kann, und am Ende belegen die musikalischen Boxenbewohner ihre reale Existenz auch dadurch, dass sie ihre Hände durch die hermetischen Stoffbahnen hindurch strecken. So bleibt die Szene in der Schwebe zwischen virtueller Welt und Wirklichkeit, und es ist eine Qualität des Stücks, dass es außerdem zwischen naiver Hingabe, ernsthafter (Selbst-)Analyse und ironischer Distanz immer wieder seinen Standort ändert. Dabei lassen sich Musik, Video und Szene zwar kaum voneinander trennen, aber dort, wo die Musik einmal stark sein darf (wie etwa in den Passagen mit der Synthesizer-Virtuosin des ausführenden Ensembles Garage), da ist sie das auch: insistierend, hochenergetisch.

Zu lang ist „iScreen, YouScream!“ aber unbedingt. Bis zur Schlussszene, in der auf der Bühne ein Dirigent mit dem Rücken zum Publikum gleichzeitig dirigiert und sich gleichzeitig dabei im Monitor betrachtet (was ihn derart erregt, dass er sich – ratsch! – den Hosenstall zumachen muss, als er die Blicke des Publikums spürt), vergeht viel Zeit mit vielen Wiederholungen. nhard GanderDas Selbstverliebte, scheint es, ist auch ein Merkmal der „Millennials“, die von den sozialen Netzwerken zu Selbstdarstellern erzogen wurden.

Wobei jetzt auch ältere Komponisten bei ihren musiktheatralischen Experimenten einfach kein Ende finden. So karikiert der US-Amerikaner Steven Takasugi in seiner „Sideshow“ zwar auf lustig-skurrile Weise die spektakulären Abnormitätenschauen, die es vor etwa einem Jahrhundert in den Vergnügungsparks von Coney Island gab, und die Musiker des Talea-Ensembles fügen grimassierend und mit grotesken Aktionen auf ihren Instrumenten der Musik eine komponierte Theaterebene hinzu. Die Musik selbst wird zudem auf interessante Weise aus Live-Klängen und deren elektronischen Verarbeitungen gemischt, und der Zuschauer selbst wird auch als Voyeur der Interpreten enttarnt. „Sideshow“ will aber nicht enden.

Ein Dada-Sprechstück verkommt zur peinlichen Slapstick-Nummer

Dass Gleiches für den vierten Teil von Christoph Ogiermanns „inner empire“ gilt, ist insofern schade, als dieser Werkzyklus auf vielschichtige Weise das Verhältnis von Individuum und Gemeinschaft, innerer und äußerer Welt reflektiert. Und es ist auch deshalb schade, weil die Neuen Vocalsolisten den vorangestellten Teil „inner empire III“ mit seiner kompositorisch überraschend streng durchgeführten Folge von Exposition, Durchführung und Reprise nur mit Lippen, Fingern und Gaumen, also saugend, schmatzend, quietschend präsentieren (Kompliment!). Der vierte Teil hingegen, eine Art Dada-Sprechstück (also ebenfalls im strengen Sinne keine Musik), verkommt, nur halbgut vorgetragen, zu einer fast peinlichen Slapstick-Nummer mit viel schwarzer (in den Gesichtern) und roter Farbe (Theaterblut).

Im weitesten Sinne sind auch Clara Maidas „Web Studies“ dem Musiktheater-Schwerpunkt des Festivals zuzurechnen: Aus den zahlreichen musikalischen Repetitionen, die Musiker des Ensembles 2e2m auf Saiteninstrumenten produzieren, werden hübsche grafische Linien auf eine Leinwand gezaubert. Das hat etwas nett Dekoratives, mehr nicht. Stärker wirkte Maidas Implantation einer Kontrabassklarinette („Later Gambler“, mit Theo Nabicht) in die eigene audiovisuelle Installation „Lostery“: weil hier das Theatrale in der Reibung zwischen live Gespieltem und Elektronik etwas Engagiertes, ja Kämpferisches hat.

Auch Hanna Hartmans Performance „Defrost“ ist Musiktheater. Wobei die Schwedin mit dem akustisch verstärkten Zerdrücken von Nudelnestern, mit aufpoppenden Maiskörnern und allerlei mehr Geräuschhaftem in einer Art alchemistischen Neuklangküche auch etwas berührend Altmodisches ausstrahlt. Das gibt es in diesem Jahr bei Eclat nämlich auch, und wunderbare Stücke sind da zu erleben. So hat Nicolaus A. Huber mit „Entschwindungen“ ein Chorwerk geschrieben, das dem Kollektiv sehr viel Individuelles einpflanzt und das mit viel Stille und feinen Nachschwingungen auf die vertonten Textteile aus Gedichten von Goethe bis Heiner Müller reagiert. Unter Marcus Creeds Leitung singt und horcht sich das SWR-Vokalensemble tief und präzise hinein in das dichte Wechselspiel von Wort und Klang, macht die vierteltönigen Passagen zu irritierenden Momenten des Zauderns und Schwebens. Das Publikum im Saal hält, so scheint es, dabei den Atem an.

Wie aus einem Rocker ein freundlicher Chorromantiker wird

Es erlebt, kontrastiert durch zwei eingeschobene Gruppen von Klavieretüden (komponiert von Brise Pauset und Mark Barden und virtuos gespielt von Nicolas Hodges), auch noch ein tastendes Erforschen des Klangkörpers Chor durch die Ukrainerin Anna Korsun, die in „moyioomni“ Töne aus 16 Sängerkehlen wiederholen, halten, auf- und abwärtsgleiten lässt. In seinem Chorstück „Totenwacht“ schließlich mutiert der Österreicher Bernhard Gander, der in Donaueschingen zuletzt seine Affinität zum Rock bewies, zum ziemlich braven, traditionsnahen Sachwalter einer christlich geprägten Todessehnsucht. „Totenwacht“, textlich geprägt durch eine Mischung lateinische Nonnen-Gesänge und Bibelstellen, wirkt musikalisch teils ein bisschen wie ein Mittelalter-Remake, teils klingt’s nach Carl Orff, teils nach Jazz, und der häufige Off-Beat verleiht der klingenden Nekrophilie sogar ein bisschen Swing. Naja.

Das Abschlusskonzert des Samstagabends beweist schließlich, dass sich knapp 40 Minuten Musik tatsächlich zu einem Konzert von 100 Minuten Länge aufblähen lassen. Unendliche Reden und Dialoge umranden die Verleihung des Kompositionspreises der Landeshauptstadt Stuttgart an Yair Klartag (erster Preis für „Nothing to express“) und Ricardo Eizirik (zweiter Preis für „junkyard piece I“). Die ausgezeichneten Stücke, Klartags rhythmisch durchpulstes, homofones Werk für Streichquartett und E-Gitarre ebenso wie Eiziriks mit selbst gebauten Klangkörpern bereichertes, witzig zwischen geradem und ungeradem Takt einher tänzelndes Ensemblewerk, sind kurz und gut. Und ihre programmatische Ergänzung durch Ulrich Kreppeins „Echoräume“, bei dem in vier Ecken des Saals gleichzeitig vier unabhängige Kammermusikstücke gespielt werden, macht einmal mehr deutlich, dass Musik auch im Kopf des Zuhörers entsteht. So wie man sogar Zufälle immer am liebsten logisch herleiten will, so setzt man hier zusammen, was gar nicht zusammengehören soll, sucht nach Konvergenzen und Synchronität sogar dort, wo überhaupt keine ist. Bei der Frage „Was bin ich?“ kommt das Publikum am schlechtesten weg.