So viel Platz würde ein Rad brauchen, wenn’s ein Auto wär’. Foto: Let’s bike it

Der Anspruch ist hoch. Im Future City Lab wollen Wissenschaftler gemeinsam mit den Bürgern die Stadt der Zukunft entwickeln. Eine Stadt, in der Menschen genauso viel wert sind wie Autos. Fürwahr, das ist bisher für Stuttgart Zukunftsmusik.

Stuttgart - Arnulf Klett war Porsche-Fahrer. Und der Stuttgarter OB sorgte persönlich für freie Fahrt. Im Verbund mit seinem Baubürgermeister Walter Hoss schlug er Straßenschneisen in die Stadt. Und nicht nur Trümmer schafften sie beiseite. Die Hohe Carlsschule, das Kaufhaus Schocken, das Steinhaus, das Kronprinzenpalais, die Salucci-Reithalle hatten den Krieg überstanden, fielen aber der Bauwut zum Opfer. Beim Neuen Schloss griffen die Bürger gerade noch den Straßenbauern in die Arme. Sage und schreibe ein Viertel der Innenstadt sollte Parkplatz werden, so wünschte man sich das Ende der 50er Jahre im Rathaus.

An diesen Sünden der Stadtplaner trägt die Stadt noch heute. Und zwar schwer. Die dreckige Luft und der ewige Stau künden davon. Wahrscheinlich braucht es deshalb ein Gegenmittel, das nicht gerade leichtfüßig daherkommt. „Reallabor für nachhaltige Mobilitätskultur“ nennt sich der neueste Versuch, die Stadt lebenswerter und menschengerechter zu machen. Am Namen merkt man schon, da haben die Wissenschaft und die Politik die Hand im Spiel.

„Städte sind die Zukunftslabore der modernen Gesellschaft“, heißt es beim Wissenschaftsministerium des Landes. Man wolle der Frage nachgehen, wie Wissenschaft neue Wege für die Zukunft in der Stadt gestalten könne, konkret vor Ort und gemeinsam mit den Bürgern. 15 Millionen Euro gibt es für verschiedene Modell-Labore. So will das deutsche Zentrum für Luft- und Raumfahrttechnik in Schorndorf den Busverkehr umkrempeln und die Haltestellen abschaffen. Die Hochschule für Technik will ihren Campus klimaneutral umbauen, die Kunstakademie will Gebäude öfter und länger nutzen, so eine Art Air B’nB von öffentlichen Gebäuden.

Und die Uni Stuttgart versucht sich am „Reallabor für nachhaltige Mobilitätskultur“. Was das ist, möchte man den Bürgern am Sonntag erklären. Nach einer Karawane von Fahrzeugen aller Art ohne Verbrennungsmotor von der Messe zur Innenstadt, trifft man sich im Theater Rampe zur Auftaktveranstaltung.

Hinter den Kulissen wird schon länger gewerkelt

Erstmals zeigt man sich in der Öffentlichkeit, hinter den Kulissen allerdings werkelt man schon länger. Es würde zu lange dauern, hier alle aufzuzählen, die mitmachen. Fast alle Fakultäten der Uni, die Stadt, die Region, das Fraunhofer-Institut, die Evangelische Kirche, der VVS, die VHS – bis auf den ADAC sind eigentlich alle dabei.

Professorin Antje Stokman vom Institut für Landschaftsplanung und Ökologie leitet das Ganze. „Wir fragen: Wie kann nachhaltige Mobilität aussehen?“ Also eine Mobilitität, die nicht nur nach den Bedürfnissen des Autofahrers ausgerichtet ist; wie lassen sich Lärm, Dreck, Platzverbrauch verringern, Gesundheit, Bewegung und Teilhabe fördern? Die Antworten sollen die Bürger selbst geben. So hat man sechs Projekte ausgewählt, „Realexperimente“ nennt man sie. Logisch, die Stadt ist ihr Labor.

Da sind Basil Helfenstein, Johannes Heynold, Kristin Lazarova und Philipp Wölki. Sie haben sich die „Stäffele-Galerie“ ausgedacht. Sie wollen die Treppen beleben, mit Sport und Kultur. Man könnte an ihren Rändern gärtnern, auf ihnen joggen oder gar musizieren. Jan Lutz hat eine App fürs Smartphone entwickelt, die Radfahren belohnt. Wer viel strampelt, bekommt Rabatte in Geschäften oder eine kostenlose Brezel. In Vaihingen nehmen Ehrenamtliche Senioren in einer Rikscha mit und fahren sie etwa zum Einkaufen. Am Marienhospital tüftelt man gemeinsam mit den Nachbarn daran, wie man 2000 Mitarbeiter und Tausende Angehörige von Patienten bewegt, ohne das Auto zu nutzen. Parklets für Stuttgart arbeitet daran, Parkplätze anders zu nutzen. Bewegliche Plattformen dort abzustellen, auf denen man sitzen kann, Bücherregale sind, eine offene Werkstatt, Beete oder Bänke. Das freie Lastenrad Stuttgart hat sich auf die Fahne geschrieben, den Transport mit Muskelkraft zu fördern. Bei ihnen kann man Lastenräder leihen.

Ein Jahr lang werde man diese Experimente mit Rat und Tat begleiten, sagt Stokman. „Wir sagen nicht, das ist das Ziel, das müsst ihr erreichen“, sagt sie, „das wäre zu kurz gedacht.“ Die Erfolge sind nicht immer in Geld und Teilnehmerzahlen messbar. Stokman: „Selbst wenn ein Projekt scheitert, kann es trotzdem eine Diskussion anstoßen oder einen Denkprozess auslösen, und vielleicht gehen dann wieder andere Projekte daraus hervor.“ Wie das eben so ist mit Experimenten: Nicht immer kommt was dabei heraus. Aber wenn sich in diesem Labor eine Formel fände, wie man die Autostadt lebenswerter machen könnte, dann wäre das beinahe so etwas Wundersames wie die Entdeckung von Penicillin.