„Wenn ich mich nur daran orientiere, was meinem Publikum vermutlich gefällt, habe ich das Ziel schon verfehlt“, sagt Laura Tetzlaff. Foto: Horst Rudel

Ab der beginnenden Spielzeit ist Laura Tetzlaff neue Leiterin des Kinder- und Jugendtheaters der Esslinger Landesbühne. Sie will die Wände der Institution Theater durchlässiger machen, also die Schwelle senken für das junge Publikum aus kulturfernen Schichten. Und sie will dem Nachwuchs auch etwas zumuten.

Sie ist wahrlich keine Unbekannte an der Esslinger Landesbühne (WLB): Laura Tetzlaff inszenierte die Stück-Ausgrabung „Frau Emma kämpft im Hinterland“ von Ilse Langner, die Dramatisierung von Siegfried Lenz’ „Deutschstunde“ oder Edoardo Erbas „New York Marathon“ und anderes – großteils Produktionen fürs erwachsene Publikum. Jetzt wechselt sie die Fahrspur: Ab dieser Saison übernimmt die 40-jährige Regisseurin die Leitung der Jungen WLB. Im Gespräch schildert sie, was sie dort erwartet und erwarten lässt.

 

Frau Tetzlaff, Ihr Vorgänger Jan Müller hielt es an der Spitze der Jungen WLB gerade mal zwei Spielzeiten aus, Ihr Vorvorgänger Marco Süß dafür ganze 16. Wie viele geben Sie sich?

Schauen wir mal. Ich bin jedenfalls nicht gekommen, um zu gehen. Und es ist ja nicht so, dass ich das Haus nicht gut kenne.

„Die Ehrlichkeit des jungen Publikums ist eine Herausforderung“

Aber eher die „erwachsene“ als die Junge WLB. Wissen Sie, was Sie tun – und was die Herausforderungen sind?

Im Kinder- und Jugendtheater allgemein: die große Bandbreite. Der Spielplan soll Zuschauer von zwei bis 18 erreichen – und möglichst noch darüber hinaus. Ideal wäre ein Generationentheater, wo Stücke für die Kleinen auch die Großen bewegen. Aber man muss auch den einzelnen Altersgruppen etwas bieten, und da machen zwei Jahre schon einen Riesenunterschied aus. Vergleichbares gibt es im Erwachsenentheater nicht. Und dann gehört zu den besonderen Herausforderungen des Kinder- und Jugendtheaters noch die Ehrlichkeit des Publikums. Die Reaktionen sind spontan – und ungeschönt. Das kann einen schon mal treffen.

Bloß nicht peinlich werden

Was reizt Sie trotzdem?

Als Regisseurin suche ich mit jeder Inszenierung eine Antwort auf die Frage: Wer soll sich das anschauen – und warum? Im Kinder- und Jugendtheater stellt sich diese Frage mit besonderem Nachdruck: Wie kann ich die Zielgruppe ansprechen, ohne anbiedernd zu werden? Wenn ich so tue, als wüsste ich genau, was Kinder witzig finden oder was die aktuelle Jugendsprache ist, wirkt das peinlich. Es ist nicht auf der Augenhöhe, die es anmaßend vorgibt. Umgekehrt kommt es darauf an, eine offene Kommunikation mit dem Publikum zu finden. Diese Herausforderung immer wieder aufzunehmen ist der Reiz – und das Risiko. Denn ein Patentrezept gibt es nicht. Das junge Publikum ernst nehmen bedeutet jedenfalls auch, ihm etwas zuzutrauen. Wenn ich mich nur daran orientiere, was meinem Publikum vermutlich gefällt, habe ich das Ziel schon verfehlt. Umgekehrt hat das Publikum auch ein Recht auf Missfallen, es darf eine Inszenierung schlecht finden, ohne dass das gleich das Ende der theatralen Kommunikation bedeutet.

Hängt diese Kommunikation von der Einfühlung in Kinder und Jugendliche ab oder von einem möglichst genauen Bild, das man sich von ihnen macht?

Sowohl, als auch. An erster Stelle steht das Nachdenken über Themen, die in der Luft liegen. Dann stellt sich die Frage des theatralen Zugangs. Hilfreich dabei ist unser gut aufgestelltes theaterpädagogisches Team, das mit Publikums- und anderen Gesprächen, mit Workshops, Spielclubs und weiteren Kontakten sehr nah am jungen Publikum dran ist.

Aus Kinderperspektive – ganz wörtlich

Woran testen Sie die Qualität eines Regieeinfalls? An sich selbst? An der mutmaßlichen Publikumsreaktion?

Regieeinfälle sind eine Intuition, der aber die Beschäftigung mit dem Stoff, der Umsetzung und der Zielgruppe vorausgeht. Und der die Überprüfung im Probenprozess folgt. Den reinen genialen Moment gibt es nicht. Als Kindertheater-Regisseurin versuche ich, die Perspektive des Publikums einzunehmen – und zwar zunächst in einem ganz wörtlichen Sinn: Wie blickt ein kleines Kind von den Größenverhältnissen her auf einen großen Baum oder eine erwachsene Person? Diese räumliche Wahrnehmung kann Ausgangspunkt sein für die Sichtbarmachung von seelischen Prozessen und Beziehungen.

Genügt heute noch braves Erzähltheater, oder braucht es andere, interaktivere Darstellungsformen?

Es braucht beides – die Sicherheit der in sich abgeschlossenen Geschichte und die offene Form, die Kinder auf die Bühne holt und mitspielen lässt. Es braucht die Klassiker der Kinderliteratur wie „Ronja Räubertochter“, die ich im November inszeniere, und es braucht neue, aktuelle Stoffe zu Themen wie Body Shaming oder zum sogenannten Klassismus, also der Diskriminierung von Menschen aufgrund ihrer sozialen Herkunft.

„Ich will die Wände der Institution Theater durchlässiger machen“

Ein wichtiges Stichwort: Wie reagieren Sie als Theatermacherin auf die zunehmende soziokulturelle Ungleichheit?

Ich habe nicht die Illusion, dass Theater etwas anderes sein kann als eine geschlossene Institution. Aber ich will die Wände dieser Institution durchlässiger machen. Zum Beispiel durch Stücke, die weniger über die Sprache als über Gestik, Mimik und die Körperlichkeit des Spiels funktionieren. Damit senkt man die Schwelle für Kinder, die nicht gut Deutsch sprechen. Wir greifen migrantische Themen auf. Und als Sparte einer Landesbühne leistet die Junge WLB einen ganz unmittelbaren Beitrag zur Öffnung des Theaters für Kinder und Jugendliche: Sie spielt an ganz unterschiedlichen Orten, in Klassenzimmern und bei Abstechern in Regionen, die mit Theater nicht verwöhnt sind. Das alles ist wunderbare, aber aufwendige dezentrale Kulturarbeit. Deshalb war es mir wichtig, eine Vergrößerung des Jungen-WLB-Ensembles um eine Stelle auf acht Schauspielerinnen und Schauspieler auszuhandeln – und das ist mir gelungen.

Die ideologische Feindschaft zwischen politisch-aufklärerischem Jugendtheater und ästhetisierender Fantasie – oder auch nur Fantasy – ist so passé wie der erhobene Zeigefinger. Trotzdem: Wo würden Sie sich positionieren?

Sicher nicht bei den Extremen. Ich nähere mich dem Theater eher über Stoffe und Themen, aus denen sich dann von selbst eine eher realistische oder eher märchenhafte Darstellungsweise entwickelt.

„Ich sehe mich als Leiterin und Begleiterin“

Werden Sie als Spartenleiterin weiterhin inszenieren?

Ja. Ich sehe mich als künstlerische Leiterin, die auch inszeniert, und als Begleiterin, die anderen Regisseurinnen und Regisseuren einen Freiraum gewährt. Diese beiden Kompetenzen müssen sich in einem Punkt treffen: Ich muss wissen, wann ich eingreife, und wann ich besser einen Schritt zurücktrete.

Was hat das Theater Kindern und Jugendlichen überhaupt noch zu bieten?

Für Kinder gehören Spielen, Leben und Lernen noch ganz natürlich zusammen – und das bedeutet auch eine natürliche Nähe zum Theater. Für Jugendliche bietet Theater eine Möglichkeit, die eigene Lebenswelt zu reflektieren und aus dem Abstand heraus eine Haltung zu sich und zur Welt zu entwickeln.

Neues Amt, neue Spielzeit

Zur Person
 Laura Tetzlaff wurde 1981 im französischen Les Lilas geboren. Sie studierte Theater-, Literatur- und Medienwissenschaften in Leipzig. Am Staatstheater Stuttgart debütierte sie als Regisseurin mit Fassbinders „Die bitteren Tränen der Petra von Kant“. Sie war Schauspieldozentin an der Akademie in Ludwigsburg. Inszeniert hat sie unter anderem am Forum Freies Theater in Düsseldorf, am Studio Theater Stuttgart und an der Landesbühne Esslingen (WLB).

Saisonstart
 Die WLB-Spielzeit beginnt an diesem Samstag mit Goldonis „Diener zweier Herren“ in Markus Bartls Inszenierung. Am Sonntag folgt die Junge WLB mit „Mein Sommer mit Mucks“ nach Stefanie Höfler in der Regie von Tobias Rott. Die erste Regiearbeit von Laura Tetzlaff in ihrem neuen Amt ist „Ronja Räubertochter“ (Premiere: 19. November).