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Der Kriminololge Pfeiffer über Konzepte gegen Jugendgewalt - Mehr Pflegefamilien.  

Berlin - Seit in Berlin Drogen dealende Kinder aufgegriffen wurden, ist die Diskussion um geschlossene Heime neu entbrannt. Wie sinnvoll sind solche Einrichtungen? Der Kriminologe Christian Pfeiffer bezweifelt ihren pädagogischen Nutzen.

Herr Pfeiffer, der Berliner Bürgermeister Klaus Wowereit fordert, kriminelle Kinder und Jugendliche in Heimen wegzuschließen. Kann man so die Jugendgewalt kontrollieren?

Bei Kindern wissen wir, dass die Auswirkungen des Einsperrens problematisch sind, weil sie mit anderen hoch belasteten Kindern und Jugendlichen zusammenleben. Das führt zu massiven Ansteckungseffekten. Mit der geschlossenen Unterbringung ist ein hohes Risiko verknüpft, weil man so erst recht auf die schiefe Bahn gerät.

Würden Sie Heimaufenthalte begrenzen?

Man sollte diese Heimerziehung auf extreme Sonderfälle begrenzen - etwa wenn ein Kind völlig aus dem Ruder gerät und sich und auch andere gefährdet. Manchmal braucht man einfach Zeit, um an diese jungen Menschen heranzukommen. Da ist eine Krisenintervention wie die geschlossene Heimunterbringung oft das letzte Mittel.

Wie lang soll man Jugendliche wegsperren?

Von der zeitlichen Frist her braucht man für einen solchen Sozial-TÜV sechs bis zwölf Wochen - maximal. Es geht darum, dass das Kind nicht weglaufen kann und die Betreuer an es herankommen. Das ist kein pädagogisches Dauerkonzept für die nächsten Jahre, sondern nur eine Krisenintervention.

Welche Alternativen zum Heim sehen Sie?

Es gibt pädagogische Dauerkonzepte für gefährdete Kinder wie etwa in Baden-Württemberg. Dort vermittelt der vorzüglich organisierte Verein Arkade e.V. gefährdete Kinder und Jugendliche an Pflegefamilien. Die Familien werden gründlich auf ihre Aufgabe vorbereitet. Während des Aufenthalts kommt regelmäßig ein Sozialarbeiter. Das Kind kann jederzeit seinen Betreuer oder seine Eltern anrufen. Es geht in dieser Familie ganz normal zur Schule und befindet sich einem geregelten Alltagsrhythmus, der stabilisierend wirkt.

Kein leichter Job für Pflegefamilien...

Es setzt voraus, dass die Pflegeeltern hoch motiviert sind. Sie bekommen 1000 Euro netto für die Betreuung und 500 Euro für den Aufwand, den sie haben. Das ist vernünftig und gut durchdacht. Das ist inklusive der Bezahlung des Sozialarbeiters halb so teuer wie ein Heimplatz.

Die Jugendkriminalität in Deutschland sinkt

Brauchen wird nicht dennoch entschiedenere Schritte gegen die Jugendkriminalität?

Die Äußerungen mancher Politiker sind eine Reaktion auf die völlig überzogenen Thesen der verstorbenen Berliner Jugendrichterin Kirsten Heisig. So hoch ist der Bedarf an Heimplätzen nicht. Wir haben keine steigende Kinder- und Jugendgewalt. In den letzten Jahren ist sie gesunken, vor allem bei Tötungs- und Raubdelikten.

Mit dem Thema Jugendgewalt lässt sich wunderbar Wahlkampf führen. Ist das auch ein Grund für die jüngste Forderungen?

Ich verstehe die ganze Dramatik nicht, die jetzt aufgebaut wird. In Wahrheit ist es erfreulicherweise so, dass sich die Dinge stabilisiert haben. Wir können stolz auf die sinkende Jugendkriminalität in Deutschland sein. Wir haben überhaupt keinen Anlass mit hochproblematischen Konzepten die gut arbeitende Jugendhilfe zu verunsichern. So hatten wir beispielsweise 2000 in Berlin 20 Fälle von Drogen-dealenden Kindern, 2009 waren es sieben. Bei rückläufiger Drogendeal-Kriminalität kommen Politiker wie Wowereit deswegen auf die schwachsinnige Idee, einen Kinderknast einrichten zu wollen. Das ist nur Profilgehabe und Sommerloch-Aktivität, aber nicht ernsthafte Politik, was Wowereit betreibt. Wowereit kennt offenbar kein einziges Heim.

Die Wahrnehmung der Bürger ist vielfach eine andere. Das Unsicherheitsgefühl wächst.

2001 gab es bundesweit 272 Kinder, die mit Drogen gedealt haben; 2009 waren es 81 - ein Rückgang um mehr als Zweidrittel. Das ist beachtlich. Es gibt keinen Grund zu behaupten, unsere Behörden und Gesellschaft seien Produzenten von Risikokindern und wir müssten dringend etwas ändern. Wir befinden uns auf einem Erfolgsweg, um den uns viele Nachbarländer beneiden.

Also alles nur ein politisches Manöver?

Für mich ist die ganze Diskussion nur so erklärbar, dass in Berlin demnächst Wahlkampf ist und Wowereit sich konservativ profilieren muss gegen Renate Künast, die ihn bedrängende Konkurrentin der Grünen. Sie macht ihm sehr zu schaffen. Und dann kommen auf einmal Töne von ihm, die man von einem SPD-Spitzenpolitiker nicht erwarten würde. Ansonsten ist es Sommerloch-Zeit, wo die verrücktesten Ideen plötzlich Konjunktur bekommen.

Was soll Ihrer Meinung nach mit den bestehenden 21 Heimen in Deutschland - sechs davon in Baden-Württemberg - geschehen?

Ich würde sie auf keinen Fall ausbauen. Wir haben guten Grund, diese Heime schrittweise abzubauen - allein schon deswegen, weil die Zahl der Kinder abnimmt. Es darf nicht dazu kommen, dass man plötzlich indirekt die Maßstäbe ändert, nur damit diese Heime weiterleben können.

Wie sieht Ihr Rezept für Jugendliche aus, die bereits ein langes Vorstrafenregister haben?

Wir haben zu viele geschlossene Heimplätze. Im begrenzten Maße brauchen wir sie zur Krisenintervention, ansonsten nicht. Was wir ausbauen sollten sind Alternativen: Pflegefamilien zu finden, die wir gut bezahlen, vorbereiten und betreuen, während sie die schwierige Aufgabe auf sich nehmen.