Debatte über die Coronastrategie angesichts der neuen Virusmutationen: von links Michael Hüther, Vanessa Wu, Anne Will, Helge Braun, Uwe Janssens und vorne zugeschaltet Malu Dreyer. Foto: ARD

Am Sonntagabend bei Anne Will haben alle Gäste der Talkshow vor der Gefährlichkeit der neuen Virusvarianten gewarnt – aber über die Strategie, wie man sie vermeiden oder zumindest beherrschen könnte, war man sich ziemlich uneins.

Berlin - Helge Braun, der Chef des Bundeskanzleramtes und selbst Arzt, hat am Sonntagabend in der Talkshow von Anne Will zum Thema „Gefahr durch neue Corona-Mutanten“ erst gar keinen Zweifel aufkommen lassen: „Die neuen Mutanten werden irgendwann auch in Deutschland die Führung übernehmen und uns Probleme bereiten. Da bin ich mir sicher.“ Die britische, deutlich ansteckendere Variante sei bereits in 60 Staaten nachweisbar und mache in Großbritannien schon 70 Prozent der Neuinfektionen aus.

Uwe Janssens, Chefarzt im St.-Antonius-Hospital von Eschweiler, ging in der Sendung sogar noch weiter: Vor allem die südafrikanische und die brasilianische Varianten seien offensichtlich sehr gefährlich, sagte er – in Manaus im Amazonasgebiet habe sich ein Großteil der Menschen ein zweites Mal angesteckt, weil das Immunsystem trotz Antikörper überfordert gewesen sei. Das könnte in letzter Konsequenz bedeuten: Bei dieser Variante des Coronavirus wirken die Impfstoffe nicht.

Virologe: In dritter Welle bis zu 100 000 Infektionen pro Tag

Und als ob diese düsteren Szenarien noch nicht ausreichten, setzte Anne Will in einem Einspieler noch eins drauf. Virologe Christian Drosten warnte davor, dass sich in einer dritten Welle in Deutschland täglich bis zu 100 000 Menschen infizieren könnten – nämlich dann, wenn die ältere Bevölkerung großteils geimpft sei und deshalb der Druck auf Politik und Gesellschaft wachse, überall das Leben wieder in Gang zu bringen. Bei solch hohen Zahlen aber seien, so Drosten, auch wenn es dann vor allem jüngere Menschen träfe, die Intensivstationen trotzdem voll und es werde wieder viele Tote geben.

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Wie also die Einschleppung der Coronamutanten und eine dritte Welle verhindern? Das war die zentrale Frage der Talkshow. Die Journalistin Vanessa Wu von Zeit Online und der Arzt Uwe Janssens brachten dabei die sogenannte „No Covid“-Strategie ins Spiel, die eine Gruppe von 13 Wissenschaftlern vor einer Woche der Runde der Kanzlerin und der Ministerpräsidenten vorgestellt hatten. Vereinfacht gesagt, lautet diese Strategie: Wenn in einem lokalen oder regionalen Gebiet die wöchentliche Inzidenz auf unter zehn Infizierte pro 100 000 Einwohnern fällt, wechselt dort die Ampel auf Grün und alles ist wieder erlaubt, auch Feiern mit vielen Personen oder Konzerte.

Politik und Wirtschaft halten No Covid-Strategie für utopisch

So hätten die Menschen ein positives Ziel und könnten mit harten, aber kurzen Maßnahmen selbst dazu beitragen, zu einer grünen Zone zu werden. Das sei eine langfristig tragfähige Strategie, sagte Vanessa Wu. Bisher setze die Politik dagegen auf einen „Wischiwaschi-Lockdown“ und vollführe einen Eiertanz, so Michael Hallek, der Direktor der Inneren Medizin der Uniklinik Köln in einem weiteren Einspieler.

Die drei weiteren Gäste hielten diese Strategie dagegen für utopisch und nicht durchführbar. Die scharfen Grenzen zwischen grünen und roten Zonen innerhalb Deutschlands unterbrächen die Wertschöpfungsketten, argumentierte Michael Hüther, der Direktor des Deutschen Instituts für Wirtschaft. Zudem müsste man dafür rigide Maßnahmen einführen, wie sie bisher nur China umgesetzt habe, und das wolle wohl niemand. Vanessa Wu hielt dagegen: Auch in Taiwan oder Südkorea funktioniere die Strategie. Zumindest darin war man sich einig, dass dort der Datenschutz deutlich weniger Bedeutung habe und dass man dies dann für Deutschland übernehmen müsse, damit etwa die Corona-Warnapp auch etwas bringe.

Heftige Kritik an der Strategie von Bund und Ländern

Helge Braun und Malu Dreyer, die Ministerpräsidentin von Rheinland-Pfalz, halten eine „No Covid“-Strategie ebenfalls nicht für praktikabel. Braun setzt deshalb auf eine andere Strategie: Man müsse jetzt die Infektionszahlen so weit nach unten drücken, damit sich die Coronavarianten nicht so schnell und nicht so stark ausbreiten könnten und damit die Gesundheitsämter wieder alle Fälle nachverfolgen könnten. „Kontrolle entsteht bei niedrigen Inzidenzen“, so Braun. Aber im Winter auf eine Inzidenz unter 10 zu kommen, sei nicht realistisch. Dreyer stimmte dem zu und sagte: „Wir sind mit unserer Strategie bislang gut durch die Pandemie gekommen.“

Dem widersprachen Uwe Janssens und Michael Hüther vehement. Man wisse nach fast einem Jahr in der Pandemie noch immer nicht, welche Situationen ein hohes Ansteckungsrisiko hätten, so Hüther; und man wisse bis heute auch nicht, welche Maßnahmen Wirkung zeigten: „Wir können deshalb gar nicht differenziert agieren.“ Auch bei den Pflegeheimen habe die Politik viel zu lange zugewartet, um die Senioren wirkungsvoll zu schützen, etwa mit verpflichtenden Tests für Besucher. Uwe Janssens kritisierte, dass Bundesländer und Bundesregierung immer nur „herumdoktern“ würden und jedes Bundesland dann schnell wieder eigene Regeln erlasse: „Deshalb geht die Bevölkerung nicht mehr mit.“

Helge Braun: Nächste Öffnung darf nicht mehr schiefgehen

Helge Braun konterte auch diese Vorwürfe mit seiner in der Sendung fast mantraartig vorgetragenen These, dass nur niedrige Inzidenzzahlen auf Dauer Erfolg versprächen – wenn die Zahlen so hoch seien, dass die Gesundheitsämter die Nachverfolgung nicht mehr schafften und dass trotz guter Hygieneregeln Infektionen in Pflegeheime eingeschleppt würden, dann werde es schwierig, die Pandemie in Schach zu halten. Man befinde sich mitten in einer „Jahrhundert-Naturkatastrophe“ und müsse auch wegen der neuen Coronamutanten unter allen Umständen einen weiteren Jo-Jo-Effekt vermeiden: „Eine Öffnungsstrategie ab Februar darf nicht mehr schiefgehen – deshalb müssen wir sehr vorsichtig vorgehen.“