Immer noch schick (von links): Rick McPhail, Arne Zank, Jan Müller und Dirk von Lowtzow Foto: dpa

Sie gelten als die großen Unverständlichen des deutschen Pop, sind aber stets cool dabei und haben deswegen ihre Fans. Nun legen die vier Jungs von Tocotronic im 25. gemeinsamen Jahr ihre neue CD vor: „Die Unendlichkeit“ – und reden zur Abwechslung mal Klartext.

Berlin - Persönlich waren sie ja schon immer, die Lieder von Dirk von Lowtzow (46), Jan Müller (46), Arne Zank (47) und Rick McPhail (46). So persönlich aber wohl noch nie. Die zwölf Songs auf „Die Unendlichkeit“, dem zwölften Album der Band Tocotronic, beziehen sich auf Stationen im Leben des Sängers und Texters von Lowtzow, angefangen bei Kindheitserinnerungen („Tapfer und grausam“), über das sexuelle Erwachen („Electric Guitar“), die Bandgründung („1993“), den Tod des besten Freundes („Unwiederbringlich“) bis ins Jetzt („Mein Morgen“). Wir haben in Berlin mit Dirk von Lowtzow und Jan Müller gesprochen.

Jan Müller, haben Sie über Dirk Dinge während der Arbeit an diesem Album erfahren, die Sie noch nicht wussten?
Jan Müller Jetzt keine spektakulären Enthüllungen, so ist es auch nicht angelegt. Aber ich glaube, wir haben uns noch einmal besser kennengelernt. Bei dieser Art von persönlichen Texten ist das zwangsläufiger der Fall, als wenn man den Umweg über die Abstraktion nimmt, wie wir es lange gemacht haben. Für uns hat sich mit dieser Platte noch einmal eine neue Tür geöffnet.
Was ist das Besondere an autobiografischen Texten?
Müller Die Ehrlichkeit ist sehr wichtig. Und wir mussten schonungslos sein, auch zu uns selbst.
Dirk von Lowtzow, ist Ihnen das leicht gefallen, schonungslos zu sein?
Dirk von Lowtzow Ich habe das jetzt nicht als unlösbare Aufgabe gesehen. Mich hat es eher befreit, durch diese Tür zu gehen. Zu sagen „das wird jetzt ein autobiografisches Album“ hat meine Kreativität beflügelt und sehr viel in mir in Gang gesetzt. Ich wollte mich mit einfachen Worten mitteilen, ohne Umwege und ungepanzert. Das knappe Jahr, in dem wir intensiv an den Liedern gearbeitet haben, war für mich sehr gewinnbringend. Ich habe diese Zeit als sicherlich manchmal verstörend, aber im Großen und Ganzen als schön empfunden.
Das Album ist chronologisch aufgebaut, es reicht von der Kindheitserinnerung „Tapfer und grausam“ bis zur Zukunftsutopie „Mein Morgen“.
Von Lowtzow Die Hoffnung ist, dass man es hören kann, als würde man einen Roman lesen oder eine Serie gucken. Weil es wirklich eine Narration gibt, eine Geschichte. Das erfordert Zeit und Hingabe, sich dem auszusetzen. So ein Album aufzunehmen mag altmodisch sein und vielleicht sogar anachronistisch. Doch dazu stehen wir.
Haben Sie beim Schreiben neue Erkenntnisse über sich selbst gewonnen?
Von Lowtzow Ich bin per se kein nostalgischer Mensch. Ich habe zum Beispiel keine Fotos von mir aus der Kindheit, es gibt kein Arsenal an Erinnerungen, auf das ich zurückgreifen könnte. Insofern war es interessant, einen Blick auf meine Vergangenheit zu werfen und zu schauen, was mir im Gedächtnis geblieben und was davon mitteilungswürdig im Sinne der Popmusik ist. Über meinen ersten Schultag musste ich jetzt keinen Song schreiben.
Sondern lieber über Ihre erste elektrische Gitarre in „Electric Guitar“. Sie singen in dem Lied über „Sex and Drugs im Elternhaus“. Kam mit der Gitarre das Selbstbewusstsein?
Von Lowtzow Ja, klar. Ich kannte diese Art des Ausdrucks vorher nicht. Und dann entdeckte ich in der frühen Pubertät Pop- und Rockmusik, und diese Musik spielte schnell eine große Rolle in meinem Leben. Mit der Gitarre konnte ich Krach machen, und das gab mir Selbstsicherheit und das Gefühl von Freiheit. Und das fiel genau in die Zeit von erwachender Sexualität.
Was war am Wichtigsten: Sex, Apfelkorn oder Musik?
Von Lowtzow Irgendwie alles zusammen. Deswegen heißt es ja auch „Sex & Drugs & Rock’n’Roll“. Zur Popmusik gehört eine Überschreitung. Dass man sich was traut. Man wird durch diese Musik, gerade wenn man sie als Jugendlicher hört, leicht aufgeputscht, auch ausgelassen.
Im Video zu „Hey Du“, einem Lied übers jugendliche Anderssein und den damit einhergehenden Reaktionen, wirken die übrigen Dorfbewohner wie Zombies. Haben Sie das damals so empfunden?
Von Lowtzow Die Videos, es werden vier sein, sind der Versuch, Teile des Albums als fortlaufende Geschichte, quasi als Serie, zu erzählen. Wir fanden es einleuchtend, den Fokus auf das Unheimliche und Fantastische zu legen und nicht so sehr auf das Beschwören der 70er- und 80er-Jahre-Nostalgie .
War es hart für Sie, „Schwuchtel“ genannt zu werden?
Von Lowtzow Manchmal war es bedrohlich, aber die Fußgängerzone einer westdeutschen Kleinstadt wie Offenburg, wo ich aufgewachsen bin, ist nun einmal ein Laufsteg. Wo soll man sich zeigen, wenn nicht da? Ich habe die Provokation auch gesucht und durchaus Genuss aus der Beachtung gezogen.
Wie sind Sie denn rumgelaufen?
Von Lowtzow So mit 16 hatte ich einen Hang zu modischen Extravaganzen. Das war die Zeit der New Romantic Bands, und sexuelle Ambivalenz spielte eine große Rolle. Man denke nur an Boy George oder an David Bowie. Ich habe mich oft vorm Spiegel so zurechtgemacht wie meine Helden.
Ist „1993“ ein Schlüsseljahr für Sie gewesen?
Müller Auf jeden Fall. 1993 habe ich Dirk kennengelernt.
Es ist nicht selbstverständlich, dass man mit Mitte 40 immer noch befreundet ist, wenn man sich als Jugendliche oder Studenten kennengelernt hat.
Müller Das stimmt. Ich denke, unsere Freundschaft ist auch deshalb so stabil, weil sie nicht vom Stillstand, sondern von der Veränderung geprägt ist.
Man kann sich Tocotronic sowieso ganz gut als alte Band vorstellen.
Von Lowtzow Das freut mich, und das hat auch mit dem Bandwerdegang zu tun. Wir sind Anfang der Neunziger sehr auf unsere Jugendlichkeit reduziert worden und haben das auch forciert mit Stücken wie „Ich möchte Teil einer Jugendbewegung sein“. Aber ungefähr, als wir alle 30 wurden, haben wir die Freude am Musizieren als solche in den Vordergrund gestellt, und seitdem ist das Älterwerden mit der Musik für uns kein Problem mehr. Manchmal schreiben Leute jetzt über uns „Sind die aber alt geworden“. Ja nun, wer nicht? (lacht).
Sie feiern 2018 Ihr 25-jähriges Dienstjubiläum. Wie geht es danach weiter?
Von Lowtzow Man weiß nie, was passiert. Aber das Ende ist nicht angedacht.

„Die Unendlichkeit“, das neue Album von Tocotronic, ist am 26. Januar erschienen. Die Band tritt am 8. April in Stuttgart im Theaterhaus auf.