Konzert am 3. Mai 1935 in der alten Berliner Philharmonie: in der ersten Reihe sitzen Hermann Göring, Adolf Hitler sowie Joseph Goebbels und applaudieren dem Dirigenten Wilhelm Furtwängler (re.). Foto: dpa

Die Berliner Philharmoniker veröffentlichen Wilhelm Furtwänglers Rundfunkaufnahmen von 1939 bis 1945. Die Konzertmitschnitte gehören zu den eindrücklichsten der Schallplattengeschichte.

Berlin - Als Wilhelm Furtwängler 1954 starb, war etwas Unwiederbringliches zu Ende gegangen: ein Musizieren,das die Werke auf natürliche, einzigartige Art und Weise lebendig machte. Das empfanden auch die Zeitgenossen. Der Komponist Paul Hindemith gab seinem Nachruf auf Furtwängler den Titel „Ein Maß, das uns heute fehlt“, sein Resümee: „Er besaß das große Geheimnis der Proportion.“ Die einzigartige Stellung des Musikers war und ist also unbestritten.

Wenn heute über den Dirigenten Wilhelm Furtwängler gesprochen wird, kommt man jedoch nicht darum herum, sein Verhalten während zwölf Jahren Naziherrschaft zu erwähnen. „Ein Nationalsozialist ist er natürlich nie gewesen“, schreibt der Bariton Dietrich Fischer-Dieskauin seinem Bändchen mit Erinnerungen an Furtwängler und die Zusammenarbeit mit ihm. Das ist das Gesicherte. Tatsächlich, er ist nicht Mitglied der NSDAP gewesen im Gegensatz zu Herbert von Karajan oder Elisabeth Schwarzkopf. Und ein Nazi war es in seiner Einstellung, in seiner Ideologie nicht. Aber über alles andere, sein Bleiben in Deutschland, die Annahme der ihm von den Nazis gewährten Ausnahmestellung, Privilegien auch finanzieller Art, seine Auftritte in Anwesenheit von Hitler, Göring und Goebbels, Konzerte, die propagandistisch ausgewertet wurden, Reisen und Auftritte mit den Berliner Philharmonikern in während des Kriegs besetzte Länder – über all dies ist zu sprechen. Über diese Gemengelage aus Kalkül, dem Festhalten an einem Ideal deutscher Kunst, auch über Opportunismus.

Nachfolger von Arthur Nikisch als Chefdirigent

Vielleicht kommt Furtwänglers Naivität und Verkennung der Situation am besten in einem 1947 geschriebenen Brief an Thomas Mann zum Ausdruck: „Ein Deutschland Himmlers hat es nie gegeben, nur ein von Himmler vergewaltigtes Deutschland.“ Furtwängler meinte klare Trennungen vornehmen zu können. Dass das böse Deutschland ohne den unterlassenen Widerstand des guten nicht zu denken sei, ging ihm nicht auf. Thomas Mann kommentierte das in seinem Tagebuch knapp: „Neues, langes Schreiben von Furtwängler, töricht.“ Für Mann lagen die Dinge so: „Das böse Deutschland, das ist das fehlgegangene gute, das gute im Unglück, in Schuld und Untergang. Darum ist es für einen deutsch geborenen Geist auch so unmöglich, das böse, schuldbeladene Deutschland ganz zu verleugnen und zu erklären: ,Ich bin das gute, das edle, das gerechte Deutschland im weißen Kleid, das böse überlasse ich euch zur Ausrottung.‘“

Als Adolf Hitler 1933 Reichskanzler wurde, gehörte Wilhelm Furtwängler neben Bruno Walter, Walter Klemperer, Erich Kleiber und Fritz Busch zu den ersten Dirigenten Deutschlands. 1922 war der 36-Jährige als Nachfolger von Arthur Nikisch Chefdirigent der Berliner Philharmoniker geworden – und bald einer der berühmtesten Dirigenten seiner Zeit. Obwohl er aber zweifellos in England oder Amerika hätte arbeiten können, blieb er in Deutschland.

Das gilt es zu bedenken, bei der Beurteilung der Aufnahmen, die die Berliner Philharmoniker jetzt auf 22 CD/SACD veröffentlicht haben. Die Wilhelm-Furtwängler-Edition des Labels Berliner Philharmoniker Recordings vereinigt sämtliche erhaltenen Rundfunkmitschnitte des Orchesters und ihres damaligen Chefdirigenten aus der Zeit von 1939 bis 1945. Insgesamt 21 Konzerte sind ganz oder teilweise erhalten. Von Interesse ist die erneute künstlerische Beurteilung dieser Aufnahmen, die alle bekannt und zuvor mehrfach veröffentlich wurden. Die Aufmerksamkeit für den Dirigenten hat 65 Jahre nach seinem Tod nicht nachgelassen. Die Zahl der Wiederauflagen seiner kommerziellen Studioaufnahmen und der erhaltenen Live-Mitschnitte überbietet die Verkaufszahlen vieler heutigen Pultgrößen.

Die Bänder halten den typischen Furtwänglerklang fest

Der zweite wichtige Aspekt betrifft die Quellen. Tatsächlich greift die Veröffentlichung auf das jeweils beste verfügbare Material zurück – vor allem Originalbänder, die nach Kriegsende in die Sowjetunion verbracht wurden und erst Anfang der 1990er Jahre nach Deutschland zurückkehrten. Die Aufnahmen wurden digital abgetastet und in 24-Bit-Auflösung restauriert und remastered. Die deutsche Rundfunktechnik mit dem aufkommenden Tonband war zur damaligen Zeit weltweit führend. Besonders der Dynamikumfang war erstaunlich und gibt näherungsweise einen Eindruck von Furtwänglers extremen Lautstärken, im Piano wie im Forte, beide Grade dabei immer klingend, gesättigt, weder säuselnd noch lärmend. Die Tonbänder halten den typischen Furtwänglerklang fest, diesen perspektivischen, satten und volltönenden, mal wuchtigen, mal nervenreichen Klang. Zugute kam, dass die meisten Mitschnitte in der Philharmonie in der Bernburger Straße entstanden und damit in einer unvergleichlichen Akustik. Am 30. Januar 1944 wurde der Saal zerstört und man wich in die Staatsoper aus und in den Admiralspalast.

Generell lässt sich sagen, dass die Berliner Mitschnitte der Reichsrundfunkgesellschaft von Furtwänglers Konzerten während der Kriegsjahre ein verzweifelt-glühendes Musizieren dokumentieren. Diese Aufnahmen sind heute kaum ohne den Hintergrund der zunehmenden Grausamkeit der Naziherrschaft zu hören – ganz zu schweigen von der aussichtslosen deutschen Kriegslage. Furtwängler dirigierte etwa den Beginn von Ludwig van Beethovens „Coriolan“-Ouvertüre am 27. Juni 1943 mit einer Macht, die alle heute historische Aufführungspraxis hinwegfegt. Die Tuttischläge haben eine beinahe brutale Gewalt und das Werk verdämmert in tiefster Schwärze. Derartig lastend, düster, schwer hat Furtwängler Musik ähnlicher Dimension nach dem Krieg nicht mehr dargestellt. In diesem Musizieren drückt sich womöglich das Zwiespältige von Furtwänglers Bleiben in Deutschland aus. Er glaubte zutiefst an eine deutsche Musik. Aber er erkannte nicht, dass die Nazis nicht nur die Musik missbrauchten, sondern auch seinen Glauben an ihre Reinheit und Unberührtheit.

Die Philharmoniker waren in blendender Form

Ähnlich wie die „Coriolan“-Ouvertüre wirkt Beethovens neunte Sinfonie im März 1942 tragisch aufgeladen, der Freudentaumel am Schluss ist dermaßen übersteuert schnell, beinahe hysterisch, dass der Positivismus der Partitur, die Aussage „Alle Menschen werden Brüder“ beinahe ad absurdum geführt scheinen. Der Mitschnitt einer Aufführung der Neunten wenig später, am 19. April, dem Vorabend von Hitlers Geburtstag, wurde übrigens nicht für die Editon berücksichtigt, da es davon kein Band aus dem Rundfunkarchiv gibt. Ein Amateur hatte damals eine Aufnahme der Radioübertragung angefertigt. Diese Aufführung ist sogar noch erschütternder als die einige Woche vorher.

Wo so vieles unvergleichlich glückt, muss das, was weniger gelingt, erwähnt werden. Walter Gieseking hatte in Schumanns Klavierkonzert 1942 nicht einen seiner inspirierten Tage und Furtwänglers Händel-Auffassung im Concerto grosso op.6, Nr.10, 1939 mit großer Orchesterbesetzung ist dem heutigen Hörer einfach kaum noch vermittelbar, trotz manchem Detail, das aufmerken lässt. Maurice Ravels Suiten aus dem Ballett „Daphnis et Chloé“ haben weder Flair noch quecksilbrige Artikulation, und im abschließenden Danse générale zuviel Bodenhaftung; da geht auch im Orchester, besonders bei den Holzbläsern einiges durcheinander. Generell und in ihrem Kernrepertoire von der deutschen Klassik bis zu Richard Strauss (und einigen heute nicht mehr gespielten Zeitgenossen wie Ernst Pepping und Heinz Schubert, die mit jeweils einem Werk vertreten sind) waren die Philharmoniker in blendender Form: differenziert, klangreich, reaktionsschnell mit prononciertem Bassfundament.

Das Finale der Brahms-Sinfonie ist wild, extrem, berstend vor Spannung

Furtwängler ist ein Musiker der großen Formen gewesen, für ihn war die Sinfonie Spiegelbild des „lebendigen Menschen“, der Gipfel des musikalischen Ausdrucks. Deshalb hat er immer wieder die Sinfonien von Beethoven, Brahms und Bruckner, Schubert, Schumann und Tschaikowsky dirigiert. Gerade diese Mitschnitte bieten bis heute maßstäbliche Werkdarstellungen: Beethovens vierte bis siebte Sinfonie, Bruckners Fünfte und Neunte, auch die Sechste, deren erster Satz leider fehlt, Brahms’ grandiose Vierte und der einzig erhaltene Finalsatz der Ersten. Dieses Fragment dokumentiert das letzte Konzert während des Kriegs am 23. Januar 1945 im Admiralspalast. Die Russen überquerten an diesem Tag die Oder, die US-Armee besiegelte mit der Einnahme St. Viths den Zusammenbruch der Ardennenoffensive der Deutschen. Eine Zeitzeugin des Konzerts erinnerte sich, dass man Furtwängler ansah, was alle dachten „Es ist aus.“ Und so klang dieses Finale von Brahms-Sinfonie: wild, extrem, berstend vor Spannung. John Ardoin, der über sämtliche Furtwängler-Aufnahmen ein detailliertes Buch geschrieben hat, meinte, es sei „eine der aufregendsten Orchesteraufnahmen überhaupt“. Und eine, wie man ergänzen möchte, die man daher nicht zu oft hören sollte. Kurz danach reiste Furtwängler nach Wien, wo er erfuhr, dass die Gestapo hinter ihm her war, eine Verhaftung drohte, rechtzeitig setze er sich in die Schweiz ab.

Wie zu erwarten, ist die Furtwängler-Edition erstklassig ausgestattet, bietet ein reichhaltiges Begleitbuch und ist technisch sorgfältig aufbereitet. Manch künstlichen Hall, den die Russen bei Bandkopien für Platten- und CD-Veröffentlichungen hinzufügten, fällt nun durch Rückgriff auf die Originalbänder weg. Wer die Aufnahmen gut kennt, ist dadurch zunächst geradezu irritiert, freut sich zugleich trotz des Alters der Bänder an der tonalen Sättigung des Klangbildes. Wer den Beginn der neunten Sinfonie von Beethoven im Ohr hat, wundert sich allerdings, dass im fünften Takt die prägnanten Huster inmitten des mystischen Beginns fehlen. Die Tontechniker haben jetzt mehr Publikumsgeräusche eliminiert als frühere Veröffentlichungen. Wieweit die Säuberung dem Auratischen dieser Mitschnitte etwas nimmt, ist Auffassungssache.

Wilhelm Furtwängler: The Radio Recordings 1939–1945

Hardcover-Edition im Schuber – 22 CD/SACD & 184-seitiges Begleitbuch. 229 Euro.