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In der Stadtbibliothek wird aufs Gas gedrückt, damit sie pünktlich öffnen kann.

Stuttgart - Nach rund 50 Jahren gingen am vergangenen Samstag in der Stadtbücherei im Wilhelmspalais die Lichter aus. Tränen? Der Termindruck lässt den Mitarbeitern dafür keine Zeit. Bis zur Einweihung am 21. Oktober muss der Umzug in den rund 80 Millionen Euro teuren Neubau hinterm Hauptbahnhof erledigt sein.

Der Aufzug stoppt im achten Obergeschoss. Alle drei Aufzüge in der neuen Stadtbibliothek am Mailänder Platz funktionieren reibungslos. Hier oben könnten die Möbelpacker sofort anrücken. Der Innenausbau ist abgeschlossen. Christine Brunner, stellvertretende Bibliotheksleiterin, öffnet die Tür zu ihrem neuen Büro: weißer Linoleumboden, weiße Wände. Der 18 Quadratmeter große Raum in 40 Metern Höhe ist noch unmöbliert. Die Aussicht wirkt schwindelerregend: Der Blick wird entlang der Bahngleise durch eine von Bankgebäuden gebildete Schlucht direkt auf die Innenstadt zu getrieben. "Sogar einen Zipfel vom Wilhelmspalais ist von hier oben zu sehen", sagt Christine Brunner. Der Schreibtisch der stellvertretenden Bibliotheksleiterin wird vis Õ vis der Fensterfront stehen. "Wenn ich nach dem Umzug auf die alte Stadtbücherei sehe, kommt vermutlich doch etwas Wehmut auf", meint sie. Immerhin war ihr Büro zehn Jahre im Wilhelmspalais.

"Täglich ist die Hölle los"

In den nächsten Wochen wird Brunner aber keine Zeit für wehmütige Rückblicke bleiben. Sie muss nach vorn denken. Ihr Schritt ist beim Gang über die Baustelle schnell, zielgerichtet: Der Umzug ist für sie und alle anderen Mitarbeiter die bisher größte logistische Herausforderung. Etwa 500.000 Bücher, CDs und DVDs müssen vom Wilhelmspalais in den rund 20.000 Quadratmeter großen Neubau geschafft werden. Mit 11.500 Quadratmetern gibt es in dem hochmodernen Medientempel fast doppelt so viel Platz wie im Wilhelmspalais. Der war mit rund 6400 Quadratmetern Fläche eine der kleinsten Großstadtbüchereien Europas.

"Täglich ist die Hölle los", stellt Brunner fest. Kaum hat sie ausgesprochen, kommt schon wieder ein Arbeiter auf sie zu, sagt den zig mal am Tag gehörten Satz: "Wir haben ein Problem." Diesmal geht es um die Sprinkleranlage im achten Obergeschoss. Dort soll die Graphothek einziehen. Das Problem: Die Regale für Bilder stoßen an die Decke. Werden die Bilder ins oberste Fach geräumt, streifen sie womöglich die Sprinkleranlage und lösen sie aus. "Das wäre eine Katastrophe", stellt Brunner fest. Bis kommenden Montag muss eine Lösung gefunden sein. Denn mit der Anlieferung der rund 2500 Bilder startet der Umzug in die neue Bibliothek am Mailänder Platz. Außer der Graphothek sind dort oben auch die Büros für die Mitarbeiter. So wie ein Besuchercafé unter Regie der Caritas. Beides soll erst später einziehen.

Noch sind die Etagen leer - die Eleganz steht im Vordergrund

Vom achten Geschoss lassen sich die darunter liegenden vier Galeriegeschosse einsehen. Dort bekommt die sogenannte schöne Literatur von A bis Z eine neue Heimat. Noch sind die Etagen leer. Nichts verstellt den Blick auf die sachliche Eleganz. Die Geländer, der Fußboden, die Wände strahlen weiß. Weiß ist in der Farbsymbolik keine Farbe, sondern ein Zustand der Vollkommenheit, Reinheit. Während der fast quadratische graue Bibliotheksbau des koreanischen Architekten Eun Young Yi von außen wie ein Bollwerk wirkt, das gegen böse Einflüsse schützen soll, ist das Innere transparent. Es gibt viel Luftraum. Das kommt den Nutzern zugute. Sie haben Platz für sich, ihre Gedanken, ihre Fantasien. Und möglicherweise ist das auch dem Geist, der in den zigtausend Bücher in den Regalen zwischen den Buchdeckeln gebannt ist, geschuldet. Wird er beim Lesen freigelassen, kann sich der Geist der Literatur wie der Geist aus der Flasche entfalten.

Noch würden allerdings Geister und Geist aller literarischen Genres über unverlegte Kabel stolpern oder nicht zurück in ihr Regal finden. Denn noch nichts steht am richtigen Platz. "Wenn am kommenden Mittwoch die ersten Bücher hertransportiert werden, sind auch der vierte bis siebte Stock bezugsfertig", sagt Brunner mit Überzeugung. Umgezogen wird Etage für Etage. Für rund 500000 Euro ist der Auftrag nach der Ausschreibung an eine Firma in Sachsen gegangen. "Die packt die Bücher im Wilhelmspalais in Rollregale. Dann geht 's per Lkw zum neuen Standort, wo die Bücher direkt in die Regale gestellt werden. Pro Tag schaffen die Möbelpacker 1500 Bücher und andere Medien. Da etwa 20 Prozent der Medien ausgeliehen sind, erspart das etwas Arbeit", sagt Brunner. Dennoch gibt es einen exakten Zeitplan. Den muss es auch geben. Denn es wäre ein böses Omen, wenn die beiden symbolträchtigen Termine, die Einweihung am 21. Oktober und Übergabe an die Öffentlichkeit am 24. Oktober nicht eingehalten würden. Symbolträchtig, weil die neue Bibliothek lange Bibliothek 21 hieß bevor sie in Stadtbibliothek am Mailänder Platz umbenannt wurde und der 24. Oktober bundesweiter Tag Bibliotheken ist.

Die Rückgabe funktioniert automatisch

Damit die Termine eingehalten werden, muss vor allem auf den drei unteren Etagen noch Tempo zugelegt werden. Dort ist derzeit alles noch Baustelle. Aufs Gas gedrückt werden muss auch, weil die Musikbibliothek aus ihrem Gebäude neben dem Wilhelmspalais bis Ende September raus muss und den 1.Stock im Neubau beziehen soll. Im zweiten Geschoss wird die Kinderbibliothek eingerichtet, ins dritte Geschoss sollen die wissenschaftlichen Werke kommen. Das Foyer ist unter anderem für die Bücheraus- und Rückgabe reserviert. Die Rückgabe funktioniert automatisch. Die Nutzer stecken das Buch in einen Schalter. Von dort wird es über ein Band in einen von 70 Wagen befördert, die Aussehen und Größe eines Einkaufskorbs vom Supermarkt haben, und zum Regal transportiert, wo es nur noch einsortiert werden muss.

Von der Betriebsamkeit der Bauarbeiter im Foyer und den drei darüberliegenden Etagen ist im sogenannten Herzen der Bibliothek wenig zu spüren. Der knapp 3000 Kubikmeter große Luftraum in der Mitte des Gebäudes reicht bis zum vierten Obergeschoss. Wer im Foyer in der Mitte steht und den Kopf weit in den Nacken legt, sieht ein Stück Himmel: künstlicher Himmel, geschaffen von blauen Strahlern. Blau gilt in der Farbensymbolik als Farbe der Stille und Entspannung. "Für mich ist Blau die Farbe der Poesie", stellt Brunner fest.

Blau hätte sich der echte Himmel auch im Wasser gespiegelt, der die Bibliothek umgeben sollte. Doch die Poesie im Entwurf des Architekten wurde von der Realität ausgebremst: Das Becken wurde gestrichen, damit der Kostenrahmen gehalten wird. Was davon bleibt ist ein Wasserspiel im Gebäude.