Die Altbauten werden abgerissen – und damit die Ateliers. Foto: Steffen Honzera

Der Anfang eines Vorzeigeprojekts an der Nordbahnhofstraße ist das Ende eines Kunstprojekts. Die Künstler fühlen sich von der Stadt allein gelassen.

Stuttgart-Nord - Die Nachricht lässt sich durch und durch erfreulich deuten: Das Siedlungswerk baut am Nordbahnhof neue Wohnblocks. Es wird das erste Viertel entstehen, dessen Bewohner nach neuen Vorgaben des Gemeinderats ausgewählt werden: im festgeschriebenen Verhältnis nach drei Einkommensklassen. Die Energieversorgung wird zukunftsweisend sein. Alles Weitere wird ein Wettbewerb ergeben, an dem 20 Architekten teilnehmen. So deutet es der Gemeinderat.

Die Nachricht lässt sich auch unerfreulich deuten: Ein Quartier wird weggebaggert, das ohne Schlagwörter wie innovative Energiekonzeption oder soziale Durchmischung gedeiht, aber durchaus sozial und ökologisch. Denn bevor die Neubauten begonnen werden, müssen Altbauten abgerissen werden. In denen lebt ein buntes Volk, das sich fragt, ob in Stuttgart überhaupt noch Raum für Kunst erwünscht ist. So deutet es Wolfgang Seitz.

„Wir begrüßen sehr, was dort passiert“, sagt die SPD-Fraktionsvorsitzende Roswitha Blind. Matthias Hahn, der Baubürgermeister, lobt das Siedlungswerk als vorbildlich im Sinne der Umwelt. Der Christdemokrat Philipp Hill nörgelt, dass die Pläne keinen Quadratmeter „für Kleingewerbe“ enthalten. Das ließe sich im Sinne von Seitz deuten, ist so aber nicht gemeint. Hill hat Handwerker im Sinn, Schreiner oder Installateure, keinen Maler, Bildhauer, Fotografen, Galeristen, keinen Eigenartigen.

Diese Industriebrache liegt nicht brach

Eigenart – Raum für Kunst. So heißt die Galerie samt Atelier, die Seitz in eben jenem Quartier an der Nordbahnhofstraße betreibt. Ehemals hat hier die Firma Haidle und Maier Pharmazeutika hergestellt. Eine alte Blechtafel inmitten des Innenhofes mahnt, dass das Rauchverbot auf dem gesamten Gelände nicht aus gesundheitlichen Gründen galt, sondern von der Polizei verfügt wurde. „Industriebrache“ heißt ein solches Areal im Kommunalpolitikerdeutsch. Nur liegt diese Brache nicht brach.

Ein farbklecksiger Anorak wärmt Susanna Messerschmidt in ihrem Atelier. Die alte Heizung packt es eigentlich noch, sagt sie, aber die Fenster sind nur einfach verglast, und draußen klirrt der Winter sibirische Volksweisen. Messerschmidt ist bekannt in der Kunstszene für ihre Latexinstallationen, eher in und um Stuttgart, aber sie hat auch schon in Berlin ausgestellt.

Mit ihr besiedeln rund 15 Künstler die Bauten rund um den Innenhof, den sie „off Space“ nennen, wenn sie im Sommer draußen sitzen – ein Platz außerhalb von Raum, Alltagshatz und Kehrwochenordnung. Ein Platz, auf dem sich Kunst entfalten kann. Wo es den sonst noch gibt in Stuttgart? Messerschmidt zuckt die Schultern. Für die Subkultur, die Kultur unterhalb von der, die sich hinter Stahl-Glas-Fassaden nach den Regeln der Betriebswirtschaft organisiert, ist der Raum für Kunst eng geworden. „Vielleicht ist es Zeit, Stuttgart zu verlassen“, sagt Messerschmidt. Da wäre sie nicht die erste.

„Der Abriss ist ein weiterer Kahlschlag“

Wolfgang Seitz ist auch außerhalb der Kunstszene bekannt. Er arbeitet viel für die Jugend und mit ihr. Mit Waldorfschülern am Kräherwald verschraubte er 140 Fahrräder zu einem Denkmal. Mit der Jugend vom Hallschlag modellierte er aus einem Schrottauto eine Skulptur. Seitz schimpft auch gern künstlerisch, mal auf den Kommerz mit der Aktion „Kunst ist Müll“, häufiger über Kulturbanausentum im Rathaus. Um den Ausverkauf der Kunst greifbar zu machen, bot er in der langen Nacht der Museen alles, was in seinem Atelier nicht festgeschraubt war, zum Verkauf an.

Der Abriss der alten Bauten ist „ein weiterer Kahlschlag“, sagt Seitz, „die Stadt lässt jeden und alles allein, was Kunst angeht“. Die nächste Aktion, mit der er liebäugelt, ist ein Tross von Künstlern, der mit Sack und Pack vor die Rathäuser der Nachbargemeinden zieht und Asyl beantragt. Es geht ihm nicht um Bares, um Förderung, sondern „um einen bezahlbaren Platz zum Arbeiten“. Kunst braucht nicht nur im übertragenen Sinn Raum, um sich zu entfalten, sie braucht auch im Wortsinn wenigstens Räumchen. Die sucht Seitz längst, obwohl er erst in anderthalb Jahren seine Galerie aufgeben muss. Aber da ist er derzeit schon gar nicht der einzige. „Sie finden nichts“, sagt er.

Es wäre gelogen zu behaupten, dass die Stadtoberen sich des Themas nicht annehmen. Auf ihre Art eben. Die oberste Wirtschaftsförderin Stuttgarts, Ines Aufrecht, hat errechnet, dass die Kreativen der Stadt jährlich sechs Milliarden Euro erwirtschaften. Die lässt man ungern ziehen. Die Lösung heißt „Zwischennutzungs-Management“. Seitz übersetzt das mit: „Sie sollen halt alle paar Monate umziehen.“