Zur Eröffnung des Reutlinger Tonne-Theaters muss der Intendant Enrico Urbanek noch mit dem Baugerüst leben. Die Fassade ist teurer geworden und entgegen den Plänen der Architekten nur teilverspiegelt – den Vögeln zuliebe. Foto: Horst Haas

Reutlingen gönnt sich zum ersten Mal in seiner Geschichte einen Theaterneubau. Die Tonne zieht aus Fabrikhallen in einen Elf-Millionen-Euro-Bau um. Intendant Enrico Urbanek ist froh, dass die Zeit des Provisoriums ein Ende hat.

Reutlingen - Kein Geringerer als Shakespeares Hamlet muss herhalten. Man wolle der Natur den Spiegel vorhalten, zitiert der Intendant Enrico Urbanek den dänischen Prinzen und marschiert durch den Dauerregen zur reflektierenden Fassade des neuen Reutlinger Theaters. Eine gefaltete Außenhaut, ein faltenreicher Spiegelvorhang, umhüllt – zumindest in Teilen – den geometrisch strengen Bau am Rande des Volksparks. Wo früher die Listhalle stand, eine in die Jahre gekommene Mehrzweck-Stadthalle ohne besonderen Charme, glitzert und tropft an diesem stürmischen Morgen der fast elf Millionen Euro teure Komplex.

Es ist der erste Theaterneubau, den sich Reutlingen gönnt – und der Tonne-Intendant Urbanek weiß um die Außergewöhnlichkeit der Investition. „Wir waren eben beharrlich“, sagt er selbstbewusst. Er freut sich über die stattliche Spielstätte mit ihren 200 Plätzen im großen Saal und einer bespielbaren Probebühne.

Im Untergeschoss läuft die Sprechprobe für die Eröffnungsproduktion

Am Wochenende soll der Betrieb beginnen, es ist Zeit für den Endspurt. Noch verdecken Baugerüste die Sicht, noch wird im Innern an der Ausstattung gezimmert und geschraubt, aber der Spielplan steht. Im Untergeschoss läuft die Sprechprobe für die Eröffnungsproduktion, eine musikalische Reise durch ein Jahrhundert deutscher Geschichte von Heiner Kondschak. Und der Intendant Urbanek führt gut gelaunt durch die Etagen, die er von Anfang an mitgeplant hat. In der Garderobe haben die Schminktische Rollen, damit sie flexibel im ganzen Haus eingesetzt werden können. Die Probebühne hat einen Boden aus Schwarzkiefernholz, von dem Urbanek geradezu schwärmt. Der sei einerseits elastisch und somit kniefreundlich für die Tänzer und andererseits so robust, dass ihm Schrauben und Nägel zur Verankerung von Bühnenelementen nichts ausmachten. „Da schließt sich das Holz wieder“, sagt der Intendant über die Eigenschaften der Kiefer.

Vom Stuttgarter Theaterhaus und von den Münchner Kammerspielen hat sich Urbanek abgeschaut, was eine gute Spielstätte ausmacht, er hat sich Tipps geholt von den Technischen Leitern. Welche Höhenmaße sind ideal für die Bestuhlung? Welches Schienensystem ist das praktikabelste, um die Technik an den Betonwänden zu befestigen? „Das hat Spaß gemacht“, sagt der Intendant. Er trägt ein Walkie-Talkie an der roten Jeans – immer erreichbar zu sein ist wichtig.

Urbanek ist seit 2001 Intendant – eine kleine Ewigkeit in der Branche

Der 52-jährige Theatermacher, dessen Frau als Violinistin bei der Württembergischen Philharmonie Reutlingen engagiert ist, hat sich als Allrounder bewährt, er setzt auf bewährte Vielfalt, weniger auf Innovation. Urbanek, einst Matrose, dann Bühnentechniker, Regieassistent, Leiter des Kinder- und Jugendtheaters am Landestheater in Detmold und seit 2001 – also einer kleinen Ewigkeit – der Chef der Reutlinger Tonne, scheint die Herausforderungen des Bauens mit Leichtigkeit zu stemmen. „Wir hinken zwei Monate hinterher“, sagt der gebürtige Ostberliner fast beiläufig. Was fertig sei, sei fertig. Der Rest werde schon noch erledigt.

Entnervter zeigte sich die Oberbürgermeisterin Barbara Bosch, als sie vor einem Jahr von Mehrkosten in Höhe von zwei Millionen Euro für den Neubau und seine aufwendige Aluminiumfassade erfuhr. Das sei „überaus ärgerlich“, kommentierte sie dies damals im Gemeinderat. Weil das beauftragte Architekturbüro h.s.d. architekten aus Nordrhein-Westfalen mit dem Mängeln überfordert schien, engagierte die Stadt einen Reutlinger Architekten, der half, so manches Problem zu lösen.

Schon im Sommer habe der Umzug begonnen, erzählt der Intendant beim Rundgang. Erst wurde der deutlich ausgemistete Kostümfundus angekarrt, dann folgte im September der Einzug in die Büros. Fünf Topfpflanzen begrünen den Betonkubus, an der Wand hängen ein falscher Rembrandt und ein Grundriss des Areals. Der Abschied von der Planie 22, einem Fabrikgelände der ehemaligen Firma Heinzelmann im Osten Reutlingens, war nach langem Ringen um den Standort notwendig geworden. Im Provisorium Planie lief die Betriebserlaubnis aus, und Nachbesserungen wären zu teuer geworden. Deshalb musste die Tonne nach 14 Jahren die Industrieetagen räumen. „Im Spitalhofkeller spielen wir aber weiterhin“, sagt Urbanek. Er schätzt das mittelalterliche Kellergewölbe, das seit den 80ern genutzt wird.

Vereine und Schultheater dürfen die Räume zum Selbstkostenpreis nutzen

Vom Foyer aus geht der Blick hinüber zur Stadthalle, ein Rechteck im Format eines antiken Tempels, vor fünf Jahren eröffnet. Was im teuer zu mietenden Edelbau keinen Platz hat, soll künftig im Tonne-Theater unterkommen. Im Mietvertrag mit der Bauherrin, der Stadt Reutlingen, wurde vereinbart, Vereinen, Schulen und kulturellen Institutionen die Räume zum Selbstkostenpreis zur Verfügung zu stellen. Vom Schultheaterprojekt bis zum Gastspiel ist vieles denkbar, um den Neubau mit Leben zu füllen.

Von außen sieht er noch trist aus. Die Handwerker befestigen die fehlenden Fassadenelemente. So elegant wie sich die Architekten die Optik ausgedacht haben, wird sie nicht. Es kam der Naturschutz dazwischen und warnte: Die Spiegelfassade sei eine Todesfalle für Vögel. Jetzt trägt die Außenhaut einen unschönen Barcode, dünne weiße Längsstreifen sind der Kompromiss. „Wir gehen auf Nummer sicher“, sagt der Intendant Urbanek. Vom Spiegeleffekt ist nicht viel übrig geblieben, die eitle Fassade ist schon mal ein Flopp.

Von der Komödie bis zum Solofestival

Geschichte
Das Tonne-Theater wurde 1958 in einem Kellergewölbe in der Reutlinger Gartenstraße gegründet. Die Bühne wird von der Stadt Reutlingen, dem Land und einem Verein gefördert. Es gibt 18 Personalstellen, aber kein festes Ensemble. Die wechselnden Schauspieler werden über Werkverträge beschäftigt. „Wir bieten einen bunten Fächer an, vom plakativen Stück bis zur Komödie“, sagt der Intendant Enrico Urbanek. Das Programm reicht vom Klassiker bis zur selbst erarbeiteten Uraufführung, vom Monospektakel-Solofestival bis zum Tanztheater. Es gibt einen Jugendclub und eine inklusive Theatergruppe, deren Arbeitsplätze am Haus fest etabliert sind.

Schnuppertage
Ein Wochenende lang öffnet die Tonne im Neubau (Jahnstraße 6) ihre Türen. Am Samstag, 20. Januar, ab 13 Uhr und am Sonntag, 21. Januar, ab 12 Uhr kann man das Theater besichtigen. Die Besucher können auch bei Proben zuschauen und sich kleine theatralisch-musikalische Appetithäppchen aussuchen.