Ein Mann blüht auf: Majid Mastoura und Rym Ben Messaoud in „Hedis Hochzeit“ Foto: Verleih

Der tunesische Filmemacher Mohammed Ben Attia zeigt in seinem Film „Hedis Hochzeit, an einem Einzelschicksal, wie gespalten die die Gesellschaft seines Landes nach dem Arabischen Frühling ist.

Tunis - Viel wird darüber spekuliert, wieso so wenig geblieben ist vom Arabischen Frühling, der im Dezember 2010 Nordafrika und den Nahen Osten erfasste. Zentausende standen damals auf gegen despotische Willkürherrscher und forderten bürgerliche Freiheitsrechte. Inzwischen sind die meisten Länder wieder da, wo sie vorher waren (Ägypten), oder im Chaos versunken (Libyen). Einzig in Tunesien ist es gelungen, einen demokratischen Rechtsstaat zu etablieren, dessen Grundsätze freilich oft im Gegensatz stehen zu gewachsenen Strukturen. Das zeigt der Filmemacher Mohamed Ben Attia und führt das ganze Dilemma Nordafrikas vor an einem kleinen Einzelschicksal.

Der 25-jährige Hedi steht nach dem Tod seines Vaters unter der Fuchtel seiner Mutter und im Schatten seines älteren Bruders. Er soll für Peugeot Autos an den Mann bringen, ist für einen Verkäufer aber viel zu schüchtern. Kurz vor seiner arrangierten Hochzeit – die hübsche Braut kennt er nur von heimlichen, keuschen Treffen im Auto – muss er auf Außeneinsatz an die Küste. Dort trifft er im Hotel die lebenslustige Animatorin Rim, die Touristen bespaßt. Hedi bekommt durch sie ein Gefühl dafür, was selbstbestimmtes Leben bedeutet – und auf einmal wird aus seinem Traum, die Comics zu veröffentlichen, die er in jeder freien Minute zeichnet, ein konkreter Plan.

Extrem anstrengend, eng und streng reguliert erscheint aus westlicher Sicht das von lange eingeübten Traditionen dominierte Leben in Tunesien, wobei der Islam nicht im Vordergrund steht. Allein der Hochzeit gehen zig Rituale voraus, bei denen Familienmitgliedern detailliert Rollen und Pflichten zugewiesen sind. Wie ein viel zu enges Korsett beschneiden Regeln die freie Entfaltung.

Das Gefühl, dass auf einmal alles möglich schien

Attia lässt seinen Protagonisten behutsam reifen und zeigt, wie schwer es ist, aus einem solchen System auszubrechen. Mit minimalistischer Präzision gibt Majid Mastoura Hedis Zerrissenheit eine Gestalt, seine ganze Haltung und seine ernste Miene zeugen von innerem Ringen. Schweigsam bewegt er sich zunächst durch menschenleere Straßen und Wüsteneien, Kulissen seines Gefangenseins. Erst in der Hotelanlage am Mittelmeer blüht er langsam auf, und Rym Ben Messaoud verkörpert den Prototyp einer befreiten Frau, die beschlossen hat, jede Minute ihres kleinen, unabhängigen Daseins zu genießen.

In einer Szene sprechen Hedi und Rim darüber, wie sie die tunesische Revolution um den Jahreswechsel 2010/2011 erlebt haben, mit der der Arabische Frühling begann – und der sonst eher gedämpfte Hedi beschreibt mit leuchtenden Augen das Gefühl, dass auf einmal alles möglich schien.

Auf der diesjährigen Berlinale, wo der film im Wettbewerb lief, erklärte Attia, er habe bewusst keinen Film über den Arabischen Frühling gemacht, sondern über dessen Folgen: „Wir mussten uns erst einmal finden als Gesellschaft. Wie Hedi wussten wir gar nicht, wer wir sind, was die Revolution in uns angerichtet hat.“