Eine der berühmtesten Fotografien Nan Goldins: „Nan and Brian in Bed, New York City 1983“ Foto: Plaion Pictures/Nan Goldin

Lange bevor es Begriffe wie LGBTQ gab, hat die US-Fotografin Nan Goldin die queere Szene in New York City bereits in Arbeiten wie der Diashow „Die Ballade von der sexuellen Abhängigkeit“ (1979–1986) porträtiert. Ein Dokumentarfilm stellt Goldin nun auch als Aktivistin vor.

Da ist Suzanne unter der Dusche in Palenque, da ist Edwige hinter der Bar des Evelyne’s in New York City. Hier der dösende Brian auf einem Häuserdach, dort die weinende April, der masturbierende Bobby, Nans geschwollenes Gesicht, nachdem sie verprügelt wurde. Mark wird tätowiert, Cookie und Vittorio heiraten, Jungs knutschen, irgendjemand spritzt sich Heroin. Nan Goldins verstörend-intensive Fotoarbeit „Die Ballade von der sexuellen Abhängigkeit“ ist so etwas wie das Gegenstück zu Robert Franks Bildband „The Americans“: Während Frank mit seiner Kamera der Essenz der 1950er Jahre auf der Spur war, fängt Goldin den Zeitgeist der 1980er Jahre ein, erkundet in einer rohen, ungeschönten Schnappschussästhetik das Lebensgefühl ihrer Generation. Die Aufnahmen gleichen einem intimen Tagebuch, dokumentieren das Leben und Sterben der damaligen Großstadtboheme zwischen Sex, Gewalt und Drogen, erzählt von queerer Liebe in den Zeiten von HIV und Heroin.

Sex, Gewalt und Drogen

Obwohl „Die Ballade von der sexuellen Abhängigkeit“ (1979–1986) die erste große Arbeit der 1953 in Washington, D. C., geborenen Fotografin war, ist diese bis heute ihre bekannteste und bedeutendeste. Und natürlich nehmen die Aufnahmen, die ursprünglich eine Tonbildschau darstellten, in Deutschland aber vor allem in Form eines 1987 bei Zweitausendeins erschienenen Bildbands Kultobjektstatus erlangten, viel Raum in dem Dokumentarfilm „All the Beauty and the Bloodshed“ ein.

Fotos, die besser als Sex sind

Laura Poitras hat den Film gemacht, der an diesem Donnerstag in die Kinos kommt. Sie wurde 2015 für „Citizenfour“, ein Porträt des Whistleblowers John Snowden, mit dem Oscar für den besten Dokumentarfilm ausgezeichnet. Die Journalistin und Filmemacherin ahmt nun in der knapp zweistündigen Doku dezent Goldins Stil nach. Der Film wirkt dabei selbst oft wie eine Collage, wie eine mit Musik und Interviewschnipseln unterlegte Diashow. Und immer wieder kommt natürlich Goldin selbst zu Wort, die bereits als 14-Jährige das Elternhaus verließ, früh als Amateurfotografin Erfolge feierte, erst in Boston und dann in New York City lebte, in den 1980er Jahren aber auch oft nach Westberlin reiste und zum Beispiel 1984 das Plakatmotiv für die Berlinale fotografierte. Ähnlich nüchtern-direkt wie Goldins eigene Arbeiten nähert sich „All the Beauty and the Bloodshed“ der inzwischen 69-Jährigen, die in dem Film auch zugibt, dass für sie das Fotografieren oft der Versuch war, Intimität und Erotik zu veredeln: „Ich habe Fotos oft als eine Art Sublimierung von Sex benutzt. Meistens waren sie besser als der Sex.“

Die Sackler-Familie und die Opioidkrise

Allerdings ist Poitras die Aktivistin Nan Goldin fast ebenso wichtig wie die Fotografin Nan Goldin. So beginnt der Film mit einer Protestaktion, die Goldin 2018 organisierte: Gemeinsam mit rund 100 Demonstranten verstreute sie im Sackler-Flügel des Metropolitan Museums in New York City zahllose Pillendosen. Mit Parolen wie „Sacklers lie, people die!“ (Sacklers lügen, Menschen sterben) wollte Goldin darauf aufmerksam machen, dass die Mitglieder der Sackler-Familie nicht nur Kunstmäzene sind, sondern dass diese auch hinter dem Pharmakonzern Purdue Pharma stecken, der das Schmerzmittel Oxycontin herstellt.

Nach Auffassung von Goldins Organisation P.A.I.N. hat die Milliardärsfamilie bewusst das Suchtpotenzial dieses Medikaments verharmlost und soll so maßgeblich für die Opioidkrise in den Vereinigten Staaten verantwortlich sein. Goldin selbst hatte sich 2018 selbst gerade erst von einer Oxycontin-Abhängigkeit erholt, in die sie nach einer Operation geraten war.

Dadurch, dass „All the Beauty and the Bloodshed“ sowohl der Aktivistin wie der Fotografin gerecht werden will, fällt der Film zwar etwas auseinander. Dennoch eignet er sich unbedingt als Einladung, sich wieder einmal – oder erstmals – mit dem grandiosen Werk Nan Goldins auseinanderzusetzen

All the Beauty and the Bloodshed: Dokumentarfilm. USA, 117 Minuten. Regie: Laura Poitras. Ab 12 Jahren.

Nan Goldin: Fotografin und Aktivistin

Person
 Die US-Fotografin Nan Goldin (69) lebt und arbeitet seit Ende der 1970er Jahre vor allem in New York City. Im Zentrum ihrer Fotoarbeiten steht fast immer ihr eigenes Umfeld, sie porträtiert die queere Szene und setzt sich intensiv und ungeschönt mit den Wechselwirkungen von Sex, Drogen und Gewalt auseinander.

Werk
 Goldins bekannteste Arbeit heißt „Die Ballade von der sexuellen Abhängigkeit“: Es handelt sich um eine mit Musik hinterlegte Diashow, die intime Innenansichten der New Yorker Subkultur zeigt. Nan Goldin hat diese zwischen 1979 und 1986 immer wieder verändert. Im Jahr 1987 erschien der gleichnamige Fotoband.

Protest
 Seitdem sie 2014 vom Schmerzmittel Oxycontin abhängig war, engagiert sich Goldin als Aktivistin: Sie wirft der Familie Sackler, deren Mitglieder als Kunstmäzene bekannt sind, die aber auch den Purdue-Pharmakonzern besitzen, vor, die Gefahren des Medikaments Oxycontin bewusst verharmlost zu haben.