Daniel Brühl als Nervenarzt Foto: Netflix

Daniel Brühl spielt den Nervenarzt Laszlo Kreizler, der im New York des 19. Jahrhunderts einem schrecklichen Verbrechen auf der Spur ist. Netflix baut dabei allerdings allzu sehr auf Gruseleffekte.

Stuttgagrt - Innereien sind sicher nicht jedermanns Sache. Wer empfindlich auf Gekröse reagiert, sollte bei „The Alienist“ besser einen Eimer am Sofa bereithalten. Im Topf der neuen Netflix-Serie landet schließlich schon in Episode eins die Niere eines Jungen, der kurz zuvor im New York des späten 19. Jahrhunderts erst getötet, dann ausgeweidet, zuletzt öffentlich aufgehängt wurde. Nichts für Zartbesaitete. Umso genüsslicher zoomt die Kamera gleich zu Beginn des Zehnteilers seelenruhig zum Kopf des Kindes und fährt gewissermaßen zur Hölle. In diesem Fall heißt sie Fin de Siècle – eine beliebte Handlungszeit moderner Fernsehunterhaltung .

Die Bestseller-Verfilmung des belgischen Regisseurs Jakob Verbruggen („Black Mirror“) und seines vielköpfigen Kreativteams entführt die Zuschauer an einen Schauplatz, der eigentlich nur im Groschenroman oder ZDF-Melodram noch romantisch sein darf. Die Großstadt des Jahres 1896 hingegen leidet und stinkt bei Netflix, lärmt und blutet aus jedem Morast, der sich Straße schimpft. Und dieser Sumpf aus Elend, Willkür, Korruption und Gewalt wird sogar noch etwas furchtbarer, wenn jeder Hoffnungsschimmer verlöscht. Nach dem Leichenfund ist nicht die mafiöse Polizei an der Klärung des Mordes interessiert, sondern Laszlo Kreizler, ein Nervenarzt. Weil er dem entfremdeten Geist Wahnsinniger auf die Spur zu kommen sucht, wurde er auf Englisch einst „Alienist“ genannt.

„Heute würde man ihn wohl als Kriminalpsychologen bezeichnen.“ So beschreibt der deutsche Weltbürger Daniel Brühl seine bisher größte Rolle auf dem globalen Parkett. Ein diffuser, fesselnder Charakter, dem im Kampf gegen das Böse mit oder ohne Uniform einzig zwei Verbündete beistehen: Der Presseillustrator John Moore (Luke Evans) und die Polizeisekretärin Sara Howard (Dakota Fanning), deren Chef (Brian Geraghty) kein Geringerer ist als der spätere US-Präsident Theodore Roosevelt. Je tiefer das Trio in den Fall eintaucht, je mehr Prostituierte wie der mädchenhaft gekleidete Stricher vom Anfang sterben, je weniger die Staatsmacht dagegen tut, desto unvermeidbarer wird Brühls Figur vom Beobachter zum Beteiligten mit dunkler Vergangenheit.

Seelenforscher vor Sigmund Freud

„Weil er in seinem Leben viel Schmerz erlitten hat“, meint dessen Darsteller, „versteht man besser, warum Kreizler so besessen ist, den Killer zu finden.“ Diese oft rauschhafte, mitfühlende Verbissenheit spielt Daniel Brühl mit der Arroganz eines Wissenschaftlers, der sich noch vorm Siegeszug von Freuds Psychoanalyse ins Innerste menschlicher Seelen wagt. Was genau ihn antreibt, bleibt zwar knapp unter der Oberfläche; die Ausstattung aber ist so detailgenau, dass man ihr die Effekthascherei nachsieht. Huschende Schatten sind geräuschvoll und Gangsterblicke verschlagen. Tote werden nachts exhumiert, wobei es das Tageslicht sowieso nur in die Stadt schafft, wenn es durchs Kellerfenster in die Irrenanstalt dringt, während vor der Tür nicht nur dauermorbide Stimmung, sondern ewig mieses Wetter herrscht. Aber so sind nun mal die Regeln des Genres. Dramaturgisch hat die aufgeblasene Historienästhetik ihre Gründe. Im hygienisch-juristisch-sozialen Desaster neuerer TV-Unterhaltung, von „Charité“ bis zu „Babylon Berlin“, erlebt das Publikum mit etwas Grusel, wie dünn der zivilisatorische Firnis sein kann: Selbst New York vor 122 Jahren war ein Höllenloch, in dem die Wohlstandsunterschiede aber denen von heute gleichen. Der groteske Gegensatz zwischen oben und unten wird dabei von keiner Figur besser verkörpert als von Sara Howard.

Als Kind des gehobenen Bürgertums ist sie die erste Frau im Polizeidienst. Dort kriegt sie den Dreck der Straße ebenso wie die Macht der Männer zu spüren, während das livrierte Personal daheim Sherry in Kristallkelche gießt. Dakota Fanning spielt diese Salonfeministin der ersten Stunde mit graziler Selbstbehauptung. Eine Wimper von der blutigen Hand des kriminellen Cops Connor (David Willmor) zu pusten, verweigert sie da mit wortloser Nervosität, aber sehr beharrlich.