In Nepals Hauptstadt Kathmandu stützen Holzbalken Hausmauern ab. Foto: DPA

Bei Erdbeben der Stärke 7,8 und 7,3 sind in dem Himalaja-Staat ganze Bergdörfer in sich zusammen gefallen. Doch von einem richtigen Wiederaufbau ist das bettelarme Land noch weit entfernt.

Kathmandu - Nurbu Tanzen kauert zusammen mit seiner Frau und dem 15-jährigen Sohn vor seinem Haus. Oder vielmehr: Das, was von dem zweistöckigen Gebäude aus Backstein und Lehm noch übrig ist. Denn als vor einem Jahr im Herzen Nepals die Erde bebte, fiel ihr Haus in dem Örtchen Bhusapheda fast vollständig in sich zusammen.

Wache dunkle Augen schauen aus seinem zerfurchten Gesicht, als er den ausländischen Gästen ein paar Strohmatten zum Sitzen im Freien anbietet. Leise seufzt er: „Wir warten immer noch auf Hilfe von unserer Regierung, aber wir zweifeln langsam daran, dass da noch groß was kommt“, meint Tanzen müde lächelnd.

Er erzählt langsam und mit monotoner Stimme: Als am 25. April die Erde bebte, hatte er unten im Tal auf seinen Maisfeldern gearbeitet. Der 15-jährige gehbehinderte Rabin spielte im Freien, seine Frau rannte aus dem Haus und ein 18-jähriger Sohn rettete sich mit einem Sprung aus dem 1. Stock. Die Familie hatte Glück. Alle blieben unverletzt, als ihr Haus einstürzte.

Entlang des schmalen Pfades davor sitzen heute fein säuberlich aufgereiht mehrere Reihen Steine des alten Hauses. Ziegel sind kostbares Baumaterial in dieser armen Gegend. Der Maurer hat das alte Haus zumindest teilweise wieder aufgebaut. Das Obergeschoss fehlt aber. „Wir haben nicht genug Geld“, sagt Tanzen. Die fünfköpfige Familie wohnt jetzt in einem engen Behelfsverschlag ohne Fenster aus Holz und dünnem Wellblech. Wenn die Sonne brennt, ist es darin heiß und stickig und im Winter bitter kalt.

So wie Tanzens Familie geht es vielen Menschen im Bezirk Dolakha vier Autostunden nordöstlich der Hauptstadt Kathmandu. Vor einem Jahr bebte in Zentralnepal die Erde – mit der Stärke 7,8 Ende April, mit 7,3 Mitte Mai – , fast 9000 Menschen kamen ums Leben. Vorläufigen Schätzungen der Regierung zufolge wurden 570 000 Häuser am Himalaja vollständig zerstört und 270 000 weitere schwer beschädigt. Drei Millionen Bergbewohner wurden obdachlos – rund zehn Prozent der Gesamtbevölkerung. Und Dolakha zählt zu den Gegenden, die besonders stark gelitten haben.

Die Hilfe aus dem Ausland kam schnell. Die Geldgeber versprachen mehr als 3,5 Milliarden Euro für den Wiederaufbau. Hilfsorganisationen aus aller Welt leisteten rasch Nothilfe. In Dolakha verteilte vor allem Plan International Essen, Wasserreinigungskits und Baumaterial an Zehntausende Menschen. Die Kinderhilfsorganisation ließ Hunderte von Behelfsschulen errichten und bildet Lehrer aus. Jetzt lud sie eine Gruppe von Journalisten ein, nachzuschauen, wie weit der Wiederaufbau gediehen ist.

Das niederschmetternde Ergebnis: Von einem richtigen Wiederaufbau ist trotz der großen Hilfe aus dem Ausland noch immer nicht viel zu sehen. Eigentlich ein Skandal. Doch davon spricht in Nepal kaum jemand. Die Regierung hat an die betroffenen Familien bisher nur rund 250 US-Dollar Notgeld verteilt. Von den versprochenen 1800 Euro zum Wiederaufbau der zerstörten Häuser haben die Erdbebenopfer noch immer keinen Cent erhalten. Inzwischen liegt eine Regenzeit und ein harter Winter hinter den Menschen. In einigen Wochen steht schon die nächste Regenzeit vor der Tür.

„Ich bin wütend“, sagt Hanibansa Thami über die ausbleibenden Hilfe der Regierung. „Unsere Politiker sind nicht gut. Die stecken sich das Geld lieber selber in die eigenen Taschen.“ Es wäre besser gewesen, wenn die ausländischen Hilfsgelder direkt an die Bewohner seines Dorfes verteilt worden wäre, meint der schmächtige 36-jährige. Auch sein Haus in dem Örtchen Suspa ist durch das Beben völlig zerstört worden. Kein Familienmitglied wurde verletzt – auch, weil zum Zeitpunkt des Bebens gerade mal wieder Stromausfall herrschte und daher die vier Kinder draußen spielten anstatt vor dem Fernseher zu sitzen.

Längst hat Thami die Dinge selbst in die Hand genommen und ein paar Meter unterhalb eine neue Behausung aus Holz und Wellblech für seine sechsköpfige Familie gezimmert. Für den Übergang. Allerdings weiß auch er, dass dieser noch sehr lange dauern könnte. Deshalb hat er die Notbehausung auf ein Backsteinfundament gebaut, um das Wasser vom Boden draußen zu halten. Seismologen verzeichneten seit April 2015 etwa 450 Nachbeben der Stärke 4 und stärker. „Wir brauchen besseres Baumaterial und auch eine spezielle Ausbildung für erdbebensicheres Bauen“, meint der junge Maurer. Sein kleines Glück im Unglück: Plan International bezahlte ihn einen Monat lang für Wiederaufbauarbeiten in seiner Gemeinde. Er räumte Straßen vom Schutt frei, half einen Behelfskindergarten und eine Brücke zu bauen. Vom Lohn erstand er zwei Ziegen, die Dung für seine Felder abwerfen, Vor allem aber hofft er, dass es ihm gelingt männliche Zicklein zu züchten. Die kann er für 90 Euro pro Tier verkaufen. Auch dieser Nepalese hat wie viele seiner Landsleute noch nie sonderlich viel Hoffnungen in den eigene Regierung gesetzt. Das Staatsversagen nimmt er fatalistisch hin: „In so einer Lage muss man entweder eine Waffe in die Hand nehmen oder Ruhe bewahren“, meint Thami und spielt auf den blutigen Aufstand maoistischer Rebellen bis 2006 an. Er freilich sehe im Kämpfen keinen Sinn.

Die Gründe für den äußerst schleppend in Gang kommenden Wiederaufbau sind jedoch eher in Kathmandu zu finden als in Nepals Bergen. Die Straßen der Hauptstadt werden von den vielen Autos, Motorrädern und Lastwagen verstopft und verpestet. Und wären nicht mittendrin auch die zahlreichen großen Geländewagen von Unicef, Welternährungsprogramm und anderer ausländischer Helfer, man könnte fast vergessen, dass es eine schwere Naturkatastrophe gab.

Die Politiker waren zuletzt stark mit sich selbst beschäftigt. Und das nach einem ganzen Jahrzehnt dramatischer politischer Krisen: Zunächst führte ein maoistischer Aufstand zum Sturz der Monarchie. Dann wurde bis vergangenen Herbst um eine neue demokratische Verfassung gerungen. Die Minderheiten im Süden lehnten sich gegen die Grenzen im neuen Föderalismus auf. Wieder starben Menschen. Obendrein wurde das Land noch von einer Benzinknappheit lahmgelegt. Urheber war laut Nepals Politikern eine inoffizielle Blockade durch Indien. Der mächtige Nachbar soll so gegen die neue Verfassung protestiert haben. Jetzt aber soll auch auf Druck der internationalen Geldgeber endlich Fahrt aufgenommen werden: Nepals Agentur für Wiederaufbau ist seit Januar arbeitsfähig und verfügt nun auch über Pläne für den erdbebensicheren Hausbau. Die Behörde versprach, der Hausbau werde drei Jahre dauern. Doch lokale Beamte meinten, der könnte auch 20 Jahre dauern. „Es stimmt mich traurig, dass wir beim Schulbau noch nicht weiter sind“, sagt Lok Bahadur Tamang, in Dolakhas Verwaltung für Bildung zuständig. Der junge Beamte empfängt im frisch gestrichenen Büroprovisorium in Charikot. 3000 Klassenzimmer hat das Beben in seinem Bezirk zerstört. Doch bis heute habe er noch keine Hilfe der Regierung für den Bau neuer Schulen erhalten. Deshalb gehen die Schüler noch immer in Übergangsschulen. Die Asiatische Entwicklungsbank aber habe inzwischen Geld für 60 neue Schulen bereitgestellt. So hofft er, dort in einem Jahr mit der Unterrichtsbetrieb beginnen zu können.

Auch für viele ausländische Helfer stellen sich die Fortschritte viel zu langsam ein. „Das muss alles viel schneller gehen“, meint etwa Mattias Bryneson, Chef von Plan Nepal. Dabei verhehlt der Krisenmanager die Defizite der Hilfe, die mangelnde Koordination oder gar den Wettlauf unter den vielen ausländischen Helfern nicht. Er sieht aber auch das Positive: „Wir hatten keinen Ausbruch von Epidemien wie Cholera und im Winter keine große Zahl weiterer Todesopfer zu beklagen.“ Und: Bei Bildung und Übergangsbehausungen stehe das ärmste Land Südasiens heute „viel besser“ da als direkt nach dem Beben. Hotel-Besitzer Herman Thapa ist trotzdem ernsthaft um den Fortbestand des inneren Friedens in seinem Land besorgt, sollte nicht bald mehr Hilfe bei den Erdbebenopfern ankommen. „Die Menschen wollen endlich mehr Fortschritte sehen“, sagt der 26-Jährige, der in Charikot ein kleines Hotel mit Blick auf die grandiose Kulisse des Himalaja betreibt. Dabei sieht er weniger die ausländischen Hilfsorganisationen als die eigenen Politiker in der Pflicht. „Nach Jahrzehnten Entwicklungshilfe frage ich mich, wann wir endlich auf eigen Füßen stehen können.“