Forscher Kai Artinger ist sicher: „Drei der Ministerpräsidentenporträts in der ,Ahnengalerie‘ des Staatsministeriums wurden von ehemaligen Nationalsozialisten gemalt“.
Wer das Land Baden-Württemberg politisch lenkt, darf sich verewigen lassen. Eine Ministerpräsidenten-Galerie in der Villa Reitzenstein hoch über Stuttgart versammelt die seit der Gründung des Südweststaates 1952 bisher acht Amtschefs. Was man sieht, scheint künstlerisch wenig aufregend. Mit der Ruhe aber könnte es bald vorbei sein – es geht um die Verstrickung von Malern in das nationalsozialistische Unrechtsregime 1933 bis 1945.
Schreibtisch zwischen Restauratoren-Arbeitsplätzen
Die Geschichte beginnt am Schlossplatz. Der gläserne Kubus des Kunstmuseums Stuttgart ist spätestens seit den Klängen von Star-DJ Sven Väth zur Lichtinstallation von Tobias Rehberger national bekannt. Die Architektur von Rainer Hascher und Sebastian Jehle bietet viel Raum für die Kunst – die Verwaltung der Stiftung Kunstmuseum Stuttgart gGmbH ist hier nicht zu finden. Die Büros von Direktorin Ulrike Groos und ihrem Team sind 100 Meter weiter in einem Bürobau. Im Erdgeschoss arbeiten die Restauratorinnen. Hier hat auch Kai Artinger seinen Arbeitsplatz. Ein Tisch, ein Rechner, ein paar Bücher. „Was haben Sie erwartet?“, lacht er.
Kai Artinger ist Provenienzforscher, seit 2016 im Kunstmuseum-Team. „Das hat nicht jedes Museum“, sagt Artinger. Seine Stationen zuvor: das Leopold-Hösch-Museum in Düren und die Kunstsammlungen Chemnitz. Seine Aufgabe in Stuttgart? „Ich arbeite mich durch die Sammlung des Kunstmuseums Stuttgart, frage danach, wie welche Werke wann in die Sammlung gekommen sind.“
Hauptforschungsgebiet: NS-Raubkunst
Bekannt ist die Provenienzforschung vor allem durch die Identifikation von Raubkunst – Werke, die in Hitler-Deutschland von 1933 bis 1945 aus ehemals jüdischem Besitz gestohlen oder zu Schleuderpreisen abgepresst wurden. Das Ziel: die Rückgabe an die früheren Besitzer beziehungsweise deren Erben.
Kai Artinger weitet den Blick. Er will das Bewusstsein für die Frage schärfen, warum wann welche Werke in die Sammlung gekommen sind und dass es kein Interesse und keine Bemühungen nach 1945 gab, bei Ankäufen die Herkunft der Bilder, Skulpturen, Zeichnungen und Druckgrafiken zu klären.
Wie weit diese Forschung ausgreifen kann, machte Anfang 2020 Artingers Projekt „Der Traum vom ,Museum schwäbischer Kunst‘“ deutlich. Das Kunstmuseum Stuttgart sah sich als Haus identifiziert, das erst in Hitler-Deutschland das Ziel Museum präzisiert hatte. Kai Artingers Ausstellung und das Begleitbuch über „Das Kunstmuseum im Nationalsozialismus“ sorgten für Diskussionen. Nicht anders wird es sein, wenn er 2024 seine Forschungen zu den Papierarbeiten im Kunstmuseum Stuttgart vorstellt.
Schon als Student auf der Fährte
Aktuell aber hat Artinger, der schon als Kunstgeschichtsstudent in Bremen lieber die Geschichte der Sammlung der Kunsthalle aufarbeitete, statt sich nur mit Interpretationen einzelner Kunstwerke aufzuhalten, und mit der Trilogie der Abenteuer des Kommissar Lüder auch als (Kunst-)Krimi-Autor in Erscheinung trat, eine andere Fährte aufgenommen.
„Kaum jemand weiß, dass die ersten baden-württembergischen Ministerpräsidenten von Malern porträtiert wurden, die in der NSDAP waren“, sagt Artinger. Und: „Drei der bisher acht Ministerpräsidentenporträts in der ,Ahnengalerie‘ des Staatsministeriums wurden von ehemaligen Nationalsozialisten gemalt.“
August Köhler beriet NS-Kulturreferat
Der Reihe nach: Reinhold Maier (FDP), erster Ministerpräsident von 1952 bis 1953, ist mit einem Ölporträt von August Köhler (1881–1964) vertreten. Es entstand 1951. „Köhler“, sagt Artinger, „war im Mai 1933 in die NSDAP eingetreten und beriet im Dritten Reich als Mitglied der Kunstkommission der Stadt Stuttgart das NS-Kultur- und Kunstreferat bei seinen Ankäufen für die Städtische Galerie.“
Gutes Einkommen
„Köhler“, sagt Kai Artinger lakonisch, „wurde von den Nationalsozialisten sehr geschätzt, er gehörte zur Spitzengruppe derjenigen Künstler und Künstlerinnen, von denen Stuttgart mehr als 20 Bilder für die städtische Gemäldesammlung ankaufte.“ Noch 1944 kommen die „Akte im Freien“ in die Sammlung – für 9200 Mark und damit „einen der höchsten Preise, die die Stuttgarter Nationalsozialisten für die Arbeit eines lebenden Malers bezahlten“.
Gebhard Müller (CDU), von 1953 bis 1958 zweiter Ministerpräsident, wird von Peter Jakob Schober (1897–1983) porträtiert. Der Maler wird 1967 mit dem Bundesverdienstkreuz 1. Klasse ausgezeichnet. „30 Jahre zuvor“, sagt Artinger kühl, „war er in die NSDAP eingetreten.“ Wirklich „aus Zwang“, wie es Schober ebenso wie Köhler in ihren Entnazifizierungsverfahren angeben?
Zahlreiche Verkäufe bis 1945
Die Aktenlage zeigt anderes. Mehrfach ist Schober mit seinen Gemälden auf der „Großen Deutschen Kunstausstellung“ im „Haus der Deutschen Kunst“ in München vertreten. Stuttgart? Kauft von 1933 bis 1945 zehn Gemälde. „Allein in den letzten vier Kriegsjahren“, summiert Kai Artinger, „konnte Schober sechs Bilder im Gesamtwert von 12 700 Reichsmark an die Stadt verkaufen.“
Zum Vergleich: 1936 verdienten in Deutschland 14,5 Millionen Menschen (62 Prozent der Steuerzahler) im Jahr weniger als 1500 Reichsmark. Weitere fünf Millionen Angestellte und Arbeiter (21 Prozent) verfügten über ein Jahreseinkommen zwischen 1500 und 2400 Reichsmark. Ein Einkommen über 2400 Reichsmark hatten nur 17 Prozent aller Steuerzahler.
Kriegsberichterstatter an den Fronten im Osten
War Schober aber nicht als Kriegsberichterstatter eingezogen? Bestimmten nicht Zwang und Todesgefahr an den Fronten im Osten sein Leben nach 1940? Kai Artinger weist auf den Sachstand hin: „Für diese Position brauchte man gute Verbindungen“, sagt er. Und Peter Jakob Schober hatte sie? Ein Hinweis kommt aus Stuttgart. 1944 erhält Schober über den nationalsozialistischen Kunstreferenten Eduard Könekamp den Auftrag, ein Gemälde für den Radschlepper „Stuttgart“ zu malen, für ein Donauschiff des „Bayerischen Lloyd“, dessen Patenschaft Stuttgart übernommen hatte. Die Reederei gehörte zum Konzern der Reichswerke „Hermann Göring“. Von alldem liest man in biografischen Angaben zu August Köhler und Peter Jakob Schober wenig bis nichts. Auch in der Ministerpräsidenten-Galerie in der Villa Reitzenstein, seit 2011 Amtssitz von Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne), findet sich kein Hinweis.
„Wissenschaft aber“, sagt Kai Artinger, „verfolgt das Ziel, sich der Wahrheit zu verschreiben, ein differenziertes Bild mit Grauwerten zu schaffen.“ Und er ergänzt: „Man kann Grauwerte vermissen. Ich vermisse den Punkt der Wahrheit, der Wahrhaftigkeit.“
Schober sieht sich verfolgt
Die Wahrheit stellt sich für Peter Jakob Schober nach der Rückkehr aus französischer Kriegsgefangenschaft 1946 so dar: 1967 erhält er das Verdienstkreuz 1. Klasse des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland, 1973 den Professorentitel. Nur drei Jahre später beantragt Schober beim Landesamt für Besoldung und Versorgung Baden-Württemberg eine „Nachversicherung“. Es geht dem Maler um Dienstzeiten in den Jahren 1916 bis 1922 und 1932 bis 1938. Und: Schober gibt an, am „21.7.1938 aus politischen Gründen als wissenschaftlicher Assistent entlassen“ worden zu sein.
Schluss mit Verschweigen?
Kai Artinger sieht die jetzt vorliegenden Puzzlestücke als Chance, das „bisherige Beschweigen“ zu beenden. „Es kann nicht sein, dass wir diese Art des Verschweigens ewig fortsetzen“, sagt er mit Blick auf die lückenhaften, „nie ernsthaft hinterfragten Angaben der Künstler“.
Der Maler und der Politiker
Verbinden sich gar in den Personen des Malers Peter Jakob Schober („Politisch habe ich mich nie betätigt und stand der NSDAP von Anfang an ablehnend gegenüber“) und des vierten Ministerpräsidenten Baden-Württembergs, Hans Karl Filbinger (CDU, 1966–1978), die Linien eigener Verstrickungen in die Abgründe Hitler-Deutschlands? „Es ist sicher kein Zufall“, sagt Artinger, „dass Schober in der Amtszeit von Hans Karl Filbinger große Auszeichnungen erhielt.“
Als für die Bildergalerie des Landes das Bildnis von Hans Karl Filbinger gemalt werden soll, fällt die Wahl erneut auf Schober. Er führt es 1981 aus. „Wie sein Porträtist“, notiert Kai Artinger für sich, „war auch Filbinger in der NSDAP gewesen und im Zweiten Weltkrieg als Marinerichter an vier Todesurteilen beteiligt.“ Und er geht noch einen Schritt weiter: „Es drängt sich hier der Eindruck auf, als wenn alte Netzwerke noch lange Bestand hatten und im Kunstbetrieb Kontinuität herrschte.“ Bewegt sich der Provenienzforscher mit dieser Sicht noch auf dem von ihm beschworenen Weg wissenschaftlicher Wahrhaftigkeit? Kai Artinger verweist noch einmal auf die Aktenlage. „Wir müssen das zur Kenntnis nehmen“, sagt er, „dürfen das Verschweigen nicht weiterschreiben.“
Kunst als Mittel, Realität zu verschleiern?
Erzählt denn Schobers Filbinger-Porträt selbst auch etwas über auffällig lückenhafte Biografien und aus heutiger Sicht kaum verständliche Selbsteinschätzungen? „Der künstlerische Stil“, sagt Artinger, „wird zu einem Mittel, die Realität zu verschleiern.“ Ein expressiver Grundton erhalte in diesem Porträt den „Anklang von Modernität“.
Fritz von Graevenitz – ein „Gottbegnadeter“
Mit der Person von Peter Jakob Schober verbinden sich weitere Namen – und weitere Fragen. Im Entnazifizierungsverfahren Schobers tritt der Bildhauer Fritz von Graevenitz (1892–1959) als Zeuge auf. Tatsächlich zählte von Graevenitz – 1938 bis 1945 Direktor der Akademie der Bildenden Künste Stuttgart – zu jenen Künstlern, die auf einer 1944 durch das Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda erstellten Liste der „Gottbegnadeten“ auftauchten.
Zeit, sich zu erinnern
Für Kai Artinger ist klar: „Das, was die ,Gottbegnadeten‘ für den Kunstbetrieb auf Reichs- und später auf Bundesebene (in Westdeutschland) waren, das waren Künstler wie Köhler und Schober auf der Landes- beziehungsweise Regionalebene. Sie selbst und ihre Umgebung verdrängten nach 1945 ihre NS-Vergangenheit so erfolgreich, dass diese vollständig vergessen wurde.“ Und er fügt hinzu: „Sie konnten sich sicher sein, dass auch niemand in den Archiven nach Dokumenten fahndete, die mehr Licht in ihre NS-Vergangenheit hätten bringen können.“
Erst die Provenienzforschung und Sammlungsgeschichte fördern aus Sicht von Kai Artinger diese Vergangenheit wieder zutage. Er mahnt: „Nach bald 80 Jahren ist es an der Zeit, Biografien von Künstlern und Künstlerinnen wie die Genannten endlich kritisch zu rezipieren und an ihre Zusammenarbeit mit dem NS-Regime zu erinnern.“
Kai Artinger und die Provenienzforschung
Provenienzforschung
Provenienz kommt vom lateinischen provenire (herkommen). Der Begriff bezeichnet die Herkunft einer Person oder Sache. Die Forschung nach der Herkunft eines Kunstwerkes/Kulturgutes wird als Provenienzforschung bezeichnet. In Washington D.C. fand 1998 eine internationale Konferenz statt, die Grundsätze in Bezug auf Kunstwerke beschloss, die von den Nationalsozialisten im „Dritten Reich“ beschlagnahmt worden waren (Washington Principles). Deutschland unterzeichnete die Grundsätze 1999. Die Unterzeichnerstaaten verpflichteten sich, die Raubkunst zu identifizieren und an die Vorkriegseigentümer zurückzugeben. Zumeist waren die Kunstwerke jüdischen Opfern entzogen und geraubt worden und gelangten dann nicht selten in öffentliche und private Sammlungen.
Kai Artinger
arbeitet seit 2016 im Kunstmuseum Stuttgart. Der promovierte Kunst- und Kulturhistoriker, 1963 in Bremen geboren, lebt und arbeitet in Stuttgart und in Berlin. Bereits im Studium in Bremen beschäftigt sich Artinger mit Herkunftsfragen der Werke in der Kunsthalle Bremen. Das Detektivische seiner Arbeit führt ihn zu einer eigenen literarischen Figur, in der sich Kunstgeschichte und Kriminalgeschichte durchdringen: Kommissar Lüder. Lüders Fälle liegen alle in den Jahren 1933 bis 1946. Sechs Lüder-Krimis sind bisher erschienen – zuletzt 2017 „Das Picasso-Komplott“. Artinger baute das Günter Grass-Haus in Lübeck mit auf und war dessen wissenschaftlicher Leiter, arbeitete als Provenienzforscher unter anderem im Leopold Hoesch-Museum in Düren und in den Kunstsammlungen Chemnitz. Als „bisher unvollendetes Projekt“ sieht Artinger einen auch 80 Seiten angelegten Comic. „Das Geheimnis der Sphinx“ basiert auf Artingers Lüder-Krimi „Die Sphinx von Amsterdam“ von 2007. 2010 hat Artinger zudem eine von ihm selbst illustrierte Erzählung über das Eichhörnchen in der Kunst veröffentlicht. Der Titel: „Eichhörnchen begegnet Pelztasse“.