Mit unparteiischer Neugier: der Schriftsteller und Reisereporter Navid Kermani Foto: dpa

Es gibt immer mehrere Wahrheiten: Der Schriftsteller Navid Kermani ist an die östlichen Grenzen Europas gereist. Jetzt legt er seinen Reportageband „Entlang den Gräben“ vor.

Stuttgart -

Was, so mag man fragen, prädestiniert den Schriftsteller und habilitierten Orientalisten Navid Kermanidazu, von den östlichen Grenzen Europas zu erzählen? Für das Nachrichtenmagazin „Spiegel“ ist er ins Baltikum und von dort aus nach Weißrussland und in die Ukraine, auf die Krim und in die Kaukasusregion gereist. Die Antwort geben die Reportagen seines neuen Buches. Kermanis Blick für sprechende Details, sein ausgeprägtes Sensorium für Stimmungen und Atmosphären bewähren sich auch in der für ihn fremden Region. Es sind versehrte Landstriche und Städte, die Kermani bereist. Über Weißrussland schreibt er: „Andere Länder haben Mahnmale, die an die Schrecken des Krieges und des Holocausts erinnern. Wer durch Weißrussland fährt, bekommt den Eindruck, dass das Land ein einziges Mahnmal ist.“

Doch es ist nicht allein eine unheilvolle Vergangenheit, die Kermani immer wieder in den Blick nimmt. Ein Kapitel des Bandes heißt „An die Front“ und führt in den Donbass zu den Kämpfen zwischen ukrainischen Truppen und prorussischen Aktivisten. Mehrmals ist der Reporter an verschiedenen Waffenstillstandslinien unterwegs. Im Norden Georgiens verschiebt sich die Grenze zu Ossetien immer wieder, weil mal die einen, mal die anderen Soldaten vorrücken. In Bergkarabach und an den Grenzen des seit dem Zerfall der Sowjetunion von Armeniern und Aseris umkämpften Gebietes trifft Kermani auf Bewohner, die noch vor nicht allzu langer Zeit gute Nachbarn waren. Der Krieg um das inmitten von Aserbaidschan gelegene, aber von Armenien beanspruchte Territorium hat ihnen eine erbitterte Feindschaft aufgezwungen.

Überfällig: der objektive Blick nach Osten

Es sind mithin aktuelle Konflikte, die Kermani einfängt. Die weiter westlich lebenden Europäer nehmen sie kaum zur Kenntnis. Während viele der Menschen, von denen die Reportagen erzählen, nach Europa schauen, blickt der Westen nicht zurück. Kermani hingegen tut es – neugierig und vorurteilsfrei.

„Entlang den Gräben“ ist jedoch kein dunkel-pessimistisches Buch. Kermani zeigt immer wieder auch die Anpassungsfähigkeit und den Selbstbehauptungswillen von Menschen, die versuchen mit einer Situation zurechtzukommen, die sie sich nicht selbst erwählt haben. Manchmal sorgt das für absurd-groteske Arrangements. In der Hauptstadt von Bergkarabach, das seit Jahren durch armenisches Militär kontrolliert wird, betritt er das blitzblanke Terminal eines Flughafens, von dem aufgrund der unklaren politischen Lage noch nie ein Flugzeug gestartet ist.

Aber Kermani schreibt nie auf eine bestimmte Wirkung hin. Er will nicht belehren, sondern lässt die Menschen selbst zu Wort kommen. Dieser Reporter schlägt sich dabei nicht vorschnell auf eine Seite. Er stellt vielmehr immer wieder mindestens zwei vermeintliche Wahrheiten gegenüber. Wenn sein Buch trotzdem eine Botschaft hat, dann ist es die, dass es Monokulturen kaum gibt, wohl aber friedliche und weniger friedliche Wege des Zusammenlebens.