Aus unserer klinischen Erfahrung kann der Ayurveda-Experte und Schulmediziner Christian Keßler sagen, dass ayurvedische Therapieelemente häufig unterstützend eingesetzt werden können – gerade bei chronischen Erkrankungen wie solchen des Bewegungsapparats, bei Arthrose und Arthritis, bei chronischen Schmerzen, Erschöpfungszuständen, Krankheiten, die mit Stress oder der Ernährung zusammenhängen wie Übergewicht und Bluthochdruck. Foto: Fotolia/© Helmut

Mit Ayurveda chronische Krankheiten bekämpfen – geht das? Laut dem Oberarzt des Immanuel Krankenhauses in Berlin und Ayurveda-Experten Christian Keßler können Naturheilkunde und Schulmedizin sich durchaus sinnvoll einander befruchten.

Viele Menschen mit chronischen Leiden wie starkem Übergewicht, multipler Sklerose oder Hautkrankheiten wie Schuppenflechte schwören auf Ayurveda. Wird die Heilkraft Ayurveda von der Schulmedizin zu sehr unterschätzt?
Ja, das könnte man so sagen. Schließlich ist Ayurveda in südasiatischen Ländern wie Indien, Sri Lanka und Nepal Staatsmedizin, für die es dort eine universitäre Ausbildung gibt. Es ist also nicht so, dass diese Heilkunst global gesehen irgendeine exotische Nische besetzt, sondern in seinen Ursprungsländern seit mindestens 2000 Jahren in der Breite angewendet wird. Das kann ja nicht frei von Wirkung sein. Aber es stimmt auch, dass es nach westlichen Standards zu wenige Daten gibt, um die Wirksamkeit von ayurvedischen Therapien etwa bei chronischen Erkrankungen wie der multiplen Sklerose eindeutig zu belegen. Es berichten aber viele Patienten – nicht nur in Indien und Sri Lanka, sondern auch hierzulande –, dass ihnen Ayurveda geholfen hat.
Welchen Einfluss kann Ayurveda auf unsere westliche Medizin nehmen?
Ich bin der Meinung, dass Ayurveda mit seinem personalisierten Ansatz und der individuellen Medizin – nach dem Motto: gleiche Diagnose bedeutet nicht immer gleiche Behandlung – die westliche Medizin befruchten kann. Aber als Naturwissenschaftler finde ich es auch richtig und wichtig, erst zu erforschen, welche Therapien oder Behandlungsansätze aus der ayurvedischen Tradition hierzulande medizinisch sinnvoll sind, bevor wir sie in die deutsche und europäische Gesundheitsversorgung mit aufnehmen.
Welche Einflüsse aus dem Ayurveda halten Sie für alltagstauglich?
Vor allem vieles von dem, was mit einer gesunden Lebensführung zu tun hat – angefangen von regelmäßiger Bewegung über die richtige Schlafhygiene und der Regelmäßigkeit bei der Ernährung bis hin zu mehr Achtsamkeit sich selbst gegenüber. Bei uns beschränkt sich beispielsweise gesunde Ernährung oft nur darauf, dass sie möglichst viele Vitamine und Nährstoffe beinhalten sollte. In der asiatischen Medizin bedeutet gesunde Ernährung aber auch, sich Zeit für das Essen zu nehmen und dies dann auch zum richtigen Tageszeitpunkt zu tun. Und es bedeutet, darauf zu achten, welche Nahrungsmittel einem individuell guttun und zu der eigenen Verdauungskapazität passen.
Inwiefern kann Ayurveda heilen?
Mit Ayurveda kann man sicher nicht alles heilen, aber man kann an vielen Stellen über den differenzierten naturheilkundlichen Ansatz des Ayurveda sinnvolle Beiträge dazu leisten, chronische Krankheitsprozesse aufzuhalten und das Empfinden der Beschwerden günstig zu beeinflussen. Ayurveda versteht sich als traditionelles Medizinsystem eben nicht als einzelnes Werkzeug, sondern eher als eine ganze Werkzeugkiste. Als ganzheitliches System fühlt es sich für die Gesundheit und Krankheit insgesamt verantwortlich. Aus unserer klinischen Erfahrung können wir sagen, dass ayurvedische Therapieelemente häufig unterstützend eingesetzt werden können – gerade bei chronischen Erkrankungen wie solchen des Bewegungsapparats, bei Arthrose und Arthritis, bei chronischen Schmerzen, Erschöpfungszuständen, Krankheiten, die mit Stress oder der Ernährung zusammenhängen wie Übergewicht und Bluthochdruck. Besonders hilfreich sind ayurvedische Ansätze bei der Vorbeugung von Krankheiten.
Wie können Verbraucher erkennen, ob es sich bei einer ayurvedischen Behandlung um Scharlatanerie handelt?
Ein wichtiges Qualitätsmerkmal ist die Ausbildung des Anbieters: Für eine sinnvolle und sichere medizinische Anwendung braucht es qualifiziertes medizinisches Fachpersonal – beispielsweise Ärzte, Ernährungsberater oder Physiotherapeuten. Skeptisch sollte man werden, wenn der Anbieter empfiehlt, die westliche Medizin ganz außer Acht zu lassen und ab sofort nur noch auf Ayurveda zu schwören. Unverantwortlich sind therapeutische Absolutsansprüche und übertriebene Heilsversprechen. Es gibt in der Naturheilkunde viele tolle Ansätze, die in der Medizin sinnvoll und effektiv eingesetzt werden können. Doch letztlich kocht auch die Naturheilkunde nur mit Wasser. Wird Ihnen also gleich beim ersten Gespräch vollständige Heilung versprochen und Ihnen nahegelegt, alles, was Sie bisher therapeutisch unternommen haben, aufzugeben, machen Sie lieber auf dem Absatz kehrt und suchen sie sich einen anderen Therapeuten.

Zur Person:

Christian Keßler wurde 1977 in Berlin geboren. Er ist ein promovierter Mediziner (2005 Hochschule Hannover) und Indologe (2008 Uni Göttingen). Seit 2005 ist er medizinischer Ayurveda-Spezialist, ausgebildet an der Europäische Akademie für Ayurveda. Seit 2013 als Funktionsoberarzt in der Charité-Hochschulambulanz für Naturheilkunde am Immanuel-Krankenhaus Berlin