Im „Urwald Sababurg“ (Kreis Kassel) steht diese knorrige Eiche. Foto: dpa

Mehr Wildnis wagen: Die Deutschen mögen naturnahe Wälder und Flussauen und lehnen Gentechnik in der Natur ab. Knapp zwei Dritteln von ihnen gefällt Natur umso besser, je wilder sie ist. Auch die Grünen machen sich für mehr Wildnis in Europa stark.

Berlin - Im Kampf gegen das Artensterben fordern die Grünen, mehr Gebiete in Deutschland sich selbst zu überlassen und einen Wildnisfonds im Bund einzurichten. Nur 0,6 Prozent der Fläche in Deutschland könne man als Wildnis bezeichnen, heißt es im Entwurf für einen Beschluss der Bundestagsfraktion. Dabei sei politisch seit langem beschlossen, dass es zwei Prozent sein sollten. Die Bundesregierung solle einen Wildnisfonds in Höhe von 500 Millionen Euro einrichten.

Den Beschluss zum Artenschutz wollen die Grünen-Abgeordneten während ihrer Klausur in Potsdam am Donnerstag und Freitag fassen. In Paris läuft seit Montag auch eine Weltkonferenz zur Artenvielfalt. „Der dramatische Verlust an Natur, den wir erleben, bedroht unsere Lebensweise genauso sehr wie die Klimakrise“, sagte Fraktionschef Anton Hofreiter. „Wir brauchen wieder echte Wälder statt Baum-Plantagen. Solche Wälder sind nicht nur besser für den Artenschutz, sondern auch dürreresistenter.“

Grüne: Verdoppelung der Wildnis in Europa

Um das Artensterben zu stoppen, fordern die Grünen laut Entwurf eine Verdoppelung der Wildnis in Europa. Dafür sollten auch private Landbesitzer gefördert werden. Die Grünen wollen einen EU-Naturschutzfonds in Höhe von 15 Milliarden Euro jährlich und einen Ausbau des EU-Förderprogramms für Umweltschutz, LIFE, auf ein Prozent des EU-Haushalts.

Der Bund solle seine Mittel für den internationalen Naturschutz verdoppeln. „Die Bundesregierung muss handeln, bevor der Frühling verstummt und Felder und Wälder leer sind“, forderte die naturschutzpolitische Sprecherin der Fraktion, Steffi Lemke.

Deutsche wünschen sich mehr naturbelassenen Lebensraum

Die Deutschen mögen Wildnis, sind für naturnahe Wälder und Flussauen und lehnen Gentechnik in der Natur ab. Für 94 Prozent der Bundesbürger gehört Natur zu einem guten Leben dazu. 54 Prozent von ihnen gefällt Natur umso besser, je wilder sie ist. Das ist eine Erkenntnis aus den Naturbewusstseins-Studien des Bundesamt für Naturschutz in Bonn (BfN).

Auch die Bundesregierung hat den Trend längst erkannt und will der Natur wieder mehr Flächen zurückgeben. Im Rahmen der „Naturschutz-Offensive 2020“ sollen bis zum Ende des Jahrzehnts rund zwei Prozent der gesamten Landesfläche Deutschlands einer natürlichen Entwicklung überlassen werden. Das wäre eine Verdoppelung der heutigen Fläche. Die Natur werde auf diesen Flächen sich selbst überlassen und dann entstehe, wie es in der Fachsprache heiße, Wildnis.

Echte Wildnis gibt es in Mitteleuropa nicht mehr

Doch was gemeinhin als Wildnis verstanden wird, hat mit einer völlig unberührten Landschaft nur wenig zu tun. In Mitteleuropa und Deutschland dürfte es keine Region geben, die einem ursprünglichen Urwald entspricht. Überall finden sich menschliche Fußspuren. Was in Deutschland kreucht und fleucht, ist das Ergebnis einer Jahrtausenden alten Nutzung.

Wildnis ist wie Natur kein eindeutig definierbarer Begriff. Beides sind soziokulturelle Konstrukte. Die jeweiligen Vorstellungen von Wildnis sind geprägt von der Kultur eines Landes, von den Werten, die eine Gesellschaft prägen und auch ganz persönlichen Überzeugungen.

„Wiltnis“ und „Wilderness“

Der Begriff Wildnis taucht erstmals im 15. Jahrhundert auf. Er leitet sich vom Mittelhochdeutschen „wiltnis“ ab und meint das Gegenteil von menschlicher Zivilisation und Kulturlandschaft – „die ungezähmte, unbebaute, nicht überformte und nicht(intensiv) genutzte Natur“, wie es in der Naturbewusstseins-Studie heißt.

In der amerikanischen „Wilderness“-Bewegung des 19. Jahrhunderts fand diese Deutung ihre philosophische Grundlage. Hier wurde die Natur idealisiert und zum Gegenpol einer menschlich gestalteten Kulturlandschaft stilisiert.

Zurück zur Natur

Was heute als Wildnis empfunden und herbeigesehnt wird, ist also kein urwüchsiges Stück Natur, sondern eine Kulturlandschaft. „Wildnis ist eine kulturell geprägte, typisch menschliche Denkfigur“, heißt es in der Naturbewusstseins-Studie. „Die Wahrnehmung und Bewertung von wilder Natur änderte sich im Laufe der Geschichte.“

Nach Aussage des Natursoziologen und Wanderforschers Rainer Brämer leben wir in selbstgeschaffenen künstlichen Welten. Die Sehnsucht nach dem Unberührten, Ursprünglichen habe mit echter Wildnis nichts zu tun, sondern sei eine Fiktion. Der Mensch werde in eine inszenierte Natur entführt, in der er sich „gestresste Seelen“ eine Auszeit von der „Hyperzivilisation“ nehmen können.