Modernes Manöver: In einer Computersimulation spielen in Cornwall Hunderte von Nato-Offizieren beim Alliierten Schnellen Eingreifkorps ARRC ein komplexes Kriegsszenario durch. Foto: Nato

Bei einem der größten Manöver seit Jahren übt die Nato das Eingreifen in fernen Weltgegenden – auch wenn der Einsatz jenseits Europas politisch umstritten ist. Wir waren bei der Übung dabei.

Newquay - Die Armee des fiktiven Staates Kamon greift das benachbarte Tytan an und nimmt dort einen größeren Landzipfel im Westen in Besitz. Nach einem Hilferuf der Regierung Tytans greift der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen ein. Um die Invasoren wieder zu vertreiben, entsendet die Nato eine 150 000 Mann starke Interventionsstreitmacht, die sich in Tytan – im echten Leben im ostafrikanischen Äthiopien am Horn von Afrika – auch um humanitäre Hilfe für die notleidende Bevölkerung, innere Unruhen und Terroristen in unregierten Landesteilen kümmern muss.

Kommentar: Soldaten im Ensatz - Still sterben

So lautet das Krisenszenario, das die Nato gerade virtuell auf dem britischen Luftwaffenstützpunkt St. Mawgan in Cornwall durchspielt. Das Manöver mit dem Namen „Arcade Fusion 2013“ ist eine der größten Stabsübungen des Bündnisses seit Jahren. Insgesamt 2500 Soldaten aus 16 Ländern, darunter auch Deutschland, hat das britisch geführte Alliierte Schnelle Eingreifkorps (Allied Rapid Reaction Corps, kurz: ARRC) tatsächlich an der windumtosten rauen Atlantikküste am Südwestzipfel Englands versammelt.

Neben der Einsatzbereitschaft wird dabei auch zum ersten Mal ein neues Nato-Konzept getestet: Das von dem britischen Drei-Sterne-General Tim Evans geführte Heereskommando, das bis 2010 in Mönchengladbach stationiert war, soll mit Luftwaffe, Marine und Spezialkräften gemeinsam operieren lernen. „Da müssen nun Leute vom Heer lernen, ein U-Boot zu dirigieren“, erklärt US-Major Chris Hyde, Pressesprecher des multinationalen Korps. Zudem nehmen neben traditionellen Partnerländern wie Australien und Neuseeland auch Offiziere aus den Golfstaaten Katar und den Vereinigten Arabischen Emiraten an dem Manöver teil.

Bis zu 15 Mann in einem Zelt

In einem riesigen Zelt sitzen Hunderte von Stabsoffizieren in Kampfanzügen an unzähligen Tischreihen vor ihren Laptops. An den beigefarbenen Stellwänden hängen Uhren und Landkarten aus der fiktiven Krisenregion Ceresia sowie militärische Abkürzungen wie Straßenschilder, die allerdings nur Eingeweihten Orientierung im Ganglabyrinth geben. Um das Hauptzelt herum gruppieren sich akkurat aufgereiht unzählige olivfarbene Zelte, in denen die Soldaten essen oder auf Feldbetten zu zwölft bis 15 schlafen. Nur den Generälen ist in einem separaten Vip-Bereich ein bescheidenes Ein-Mann-Zelt vergönnt. Die Idee dahinter: Möglichst realitätsnah sollen Einsatzbedingungen simuliert werden. Deshalb macht das ARRC, das eigentlich im drei Autostunden entfernten Gloucester in Südwestengland zu Hause ist, halt im bitterkalten Küstenstädtchen Newquai in Cornwall. Doch laut Manöver-Drehbuch sind die Soldaten in Tytans Hauptstadt Unakos in den heißen Tropen.

Im Ernstfall ist dieses Hauptquartier in der Lage, innerhalb von nur fünf bis 30 Tagen überall in der Welt seine Zelte aufzuschlagen und Operationen zu führen – von der Katastrophenhilfe über den humanitären Großeinsatz bis hin zur Kriegsführung. Das gold-grüne Wappen der Truppe sagt alles: Um einen Speer in der Mitte heißt es auf Lateinisch: „Den Wagemutigen hilft das Glück.“

Damit das auch auch eingelöst werden kann, vollbringen die britischen Heeressoldaten, die das Rückgrat der Truppe bilden, auf dem Manöver logistische Höchstleistungen: 250 Spezialisten sorgen dafür, dass binnen kürzester Zeit die Zelte samt 1400 Steckdosen, vielen Kabelkilometern und 1200 Computern, aber auch mit Küche, Kantine und Waschgelegenheiten stehen. Die kleine Stadt, die zum Selbstschutz auch über eine eigene Infanteriekompanie und zur autonomen Elektrizitätsversorgung über fünf Dieselgeneratoren verfügt, verbraucht jeden Tag so viel Strom wie rund 40 Einfamilienhäuser. Zusammengepackt werden rund 150 Überseecontainer benötigt, um das Korps zu verlegen.

Ende 2014 geht die Nato-Mission in Afghanistan zu Ende

„Mein Hauptquartier funktioniert und steht bereit“, verkündet Kommandeur Evans stolz. Er könnte sich gut vorstellen, dass sein Korps – mit einem Nicht-Briten-Anteil von 40 Prozent das internationalste unter den insgesamt acht Schnellen-Eingreif-Kommandos der Nato – künftig auch Operationen wie die französisch-geführte Intervention in Mali zu Jahresbeginn oder das von Briten und Franzosen gemeinsam betriebene Eingreifen in Libyen im Frühjahr 2011 führt. „Wir sind flexibel und agil genug“, meint der drahtige kleine Offizier, der auch Erfahrungen bei den britischen Spezialkräften gesammelt hat.

Wenn Ende 2014 die Mission der Nato-Schutztruppe Isaf in Afghanistan zu Ende geht, so befürchtet man längst nicht nur im Brüsseler Nato-Hauptquartier, könnte dem Bündnis eine neue politische Zerreißprobe über seine Ziele ins Haus stehen: Welches sind die gemeinsamen Gefahren, und wie sieht die richtige Antwort darauf aus? Afghanistan – die bei weitem größte Mission in der Geschichte der Nato – sieht auch nach zwölf Jahren einer schwierigen Zukunft entgegen. Dennoch hat der Einsatz am Hindukusch die Fähigkeit der Alliierten zur Zusammenarbeit erheblich verbessert. Die Allianz steht „auf dem Höhepunkt unserer Fähigkeit zu gemeinsamen Operationen“, wiederholt der neue Nato-Oberbefehlshaber, der US-Luftwaffengeneral Philip Breedlove, gebetsmühlenartig. Für die Militärs ist die Perspektive für die Zeit nach 2014 klar: Mit einer ganzen Serie von größeren und kleineren Übungen soll sichergestellt werden, dass Soldaten aus Nato-Staaten und Partnerländern weiter gemeinsam operieren können.

Nutznießer dieser Entwicklung sind die Schnelle Eingreiftruppe der Nato (Nato Response Force) mit ihren 13 000 High-Tech-Soldaten, die nach dem Rotationsprinzip von den Nato-Mitgliedstaaten zur Verfügung gestellt werden – und auch die hoch mobilen Hauptquartiere wie das des ARRC. Von der „Speerspitze der Allianz“ spricht Nato-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen mit Blick auf künftige Einsätze der Eingreiftruppen. Dazu zählt Katastrophenhilfe ebenso wie die klassische Territorialverteidigung, die gerade auch in Polen und im Baltikum mit dem Großmanöver „Steadfast Jazz“ (Standhafter Jazz) mit Blick auf russische Muskelspiele geübt wurde. Auch die deutschen permanent beim ARRC eingebetteten Offiziere halten das Konzept der Stand-by-Nato, die ständig übt, um ihr hohes Maß an Einsatzbereitschaft aufrechtzuerhalten und die in der Lage ist, den Gefahren dort zu begegnen, wo sie entstehen, für zukunftsweisend. „Wir wollen hoffen, dass wir diese Fähigkeiten nicht brauchen, aber wie die Berufsfeuerwehr im Brandfall müssen wir sie vorhalten, um Schaden abzuwenden“, erklärt Brigadegeneral Martin Hein.

Welche Rolle hat die Nato heute?

Allerdings bleibt damit eine Reihe gravierender politischer Probleme im Bündnis unbeantwortet: Die berühmte Fähigkeitslücke zwischen einigen nur unzureichend ausgerüsteten europäischen Streitkräften und den Amerikanern wird nicht kleiner. Daran werden auch noch so viele Manöver kaum etwas ändern. Amerikas Hinwendung nach Asien und weitere Sparrunden bei den Militärausgaben werden die US-Präsenz in Europa weiter schrumpfen lassen. Doch ob die Europäer darauf mit verstärkter Zusammenarbeit reagieren werden, ist völlig offen.

Auch geht die Bedrohungsanalyse unter den Verbündeten weit auseinander. So halten etwa Polen und Balten Russland für weit gefährlicher als weiter westlich Deutschland oder Frankreich. Und während es etwa die USA für unabdingbar halten, dass die Nato auch jenseits Europas für Sicherheit sorgt, sind andere Länder, darunter Deutschland oder auch Polen, skeptisch, wenn es nicht um die gemeinsame Verteidigung im Falle eines Angriffs geht. Und beim Terrorismus oder der Gefahr von Cyberangriffen sind sich die Verbündeten ebenfalls uneinig, wie diesen neuen Gefahren zu begegnen sei.

Für die Offiziere beim Manöver des Alliierten Schnellen Eingreifkorps in Cornwall ist klar: Die Nato soll in der Lage sein, auf jeden Krisenfall zu reagieren. Doch dafür bräuchten sie deutlichere politische Vorgaben. Ohne größere Anstrengungen der Europäer für eine bessere militärische Zusammenarbeit wird es schwer fürs Bündnis.