Eine deutsche Marine-Kompanie auf dem Weg zur Schlacht gegen die Herero. Foto: dpa

Im Gegensatz zu früheren Jahren erscheint jetzt eine finanzielle Wiedergutmachung am Völkermord der Hereros durch die Deutschen möglich. Das Geld soll in Projekte fließen, die allen Bewohnern von Namibia zugute kommen.

Windhuk - Chief Vipuira Kapuuo kennt den Weg im Schlaf. Zielsicher steuert er seinen Geländewagen zwischen den Büschen hindurch, die alle gleich aussehen: Nicht einmal die Spur von einer Spur, an der sich der Distrikt-Chef orientieren könnte. Trotzdem taucht direkt vor ihm plötzlich eine liebevoll gepflegte Grabstätte mitten in der Wildnis auf: zwei übermannsgroße Aloen, vier Grabsteine, ein Kreuz. „Hier ruht in Gott: Leutnant d. R. Dr. jur. Burkhart Freiherr von Erffa-Wernburg“, steht auf einem der Steine: „Christus ist mein Leben. Das Sterben ist mein Gewinn.“   Kapuuo senkt den Kopf und schließt kurz die Augen. Er komme gerne mit einem Deutschen hierher, sagt er dann: „So können wir zeigen, dass wir keinen Groll auf euch haben.“ Würden die Hereros die Deutschen hassen, läge das Grabmal längst in Trümmern, gibt der Chief zu bedenken: „Wir sind nicht zornig. Aber wir vergessen auch nicht.“

Umgeben von Besitzern mit deutschen Namen

  Nicht vergessen wird der Distrikt-Chef, dass die Rinderherden der Herero hier einst ungehindert durch die Gegend zogen, während die Enkel der Nomaden heute in Reservate gepfercht sind – von Tausenden von Hektar großen Farmen umgeben, die noch immer Besitzern mit deutschen Namen gehören. Auch wird sich Chief Kapuuo stets daran erinnern, dass im Gefecht von Oganjira außer Freiherr von Erffa-Wernburg sein eigener Großvater starb: Will er dessen Grab besuchen, muss er die deutschen Farmbesitzer erst um Erlaubnis fragen.

Schließlich wird das traditionelle Oberhaupt nicht vergessen, dass die Deutschen seinem Onkel einst im Konzentrationslager von Swakopmund den Kopf abgeschlagen haben: „Sie nahmen seinen Schädel nach Deutschland mit. Was sie damit gemacht haben, wissen wir nicht.“   Hinter Vipuira Kapuuo geht die Sonne unter – wie schon über 40 000 Mal seit dem Gefecht von Oganjira, dem am 9. April 1904 neben den vier deutschen Soldaten 83 Herero zum Opfer fielen. „Für uns ist es, als ob das gestern gewesen wäre“, sagt der 69-jährige Chief: „Wenn etwas nicht wieder gut gemacht wird, dann verschwindet es auch nicht.“

  Jedes Herero-Kind weiß heute, was sich vor über hundert Jahren im Südwesten Afrikas zugetragen hat. Nachdem immer mehr Bleichgesichter aufgetaucht waren, die das weite aber trockene Land schließlich zu ihrer Kolonie erklärten, blies Herero-König Samuel Maharero zum Aufstand. Anfang 1904 ermordeten seine Kämpfer 123 deutsche Siedler: Das Kaiserreich erklärte daraufhin den Krieg. Zur Verstärkung der zunächst eher kümmerlichen Schutztruppe wurden aus Deutschland immer mehr Soldaten mitsamt Maschinengewehren und Kanonen herbei geschafft. Und nach ersten Gefechten, unter anderem hier in Oganjira, kam es im August desselben Jahres am Waterberg zur Entscheidungsschlacht.

Eine Schlacht endet in der Katastrophe

  Für die Hereros führte sie in eine Katastrophe. Hunderte starben bereits im Gefecht, Tausende verdursteten auf der Flucht durch die Halbwüste Omaheke. Andere verzogen sich in die Büsche, von denen die meisten irgendwann aufgegriffen wurden: Die deutschen Besatzer steckten sie in Arbeits- und Konzentrationslager, wo viele von ihnen elend verendeten. Während der Ablauf des Konflikts zwischen den ungleichen Kontrahenten einigermaßen fest steht, sind dessen Details noch heute umstritten.

Die Nachfahren der Siedler sprechen von Ländereien, die ihre Ahnen käuflich erworben hätten, von hinterlistigen „Eingeborenen“ und deren selbstmörderischem Aufstand. Dagegen berichten die Herero von deutschen Gräueltaten, von Massenhinrichtungen, Auspeitschungen und auf Bajonetten aufgespießten Kindern. Selbst die Zahl der Opfer ist umstritten: Während die Herero von 75 000 getöteten Ahnen ausgehen, von denen 15 000 überlebten, will die Gegenseite höchstens von 35 000 einst hier lebenden Einheimischen wissen.

Ein Diplomat aus dem Bilderbuch

Dass ein Großteil des Nomadenvolkes damals ausradiert wurde, ist indessen unbestritten.   „Selbstverständlich handelt es sich um einen Völkermord“, sagt Zed Ngavirue. Der elegant gekleidete 84-jährige Herr mit schwarz gefärbten Haaren sitzt in seinem Büro im sechsten Stock des Windhuker Außenministeriums: Ein Diplomat wie aus dem Bilderbuch. Der promovierte Historiker, Professor und Spross der adligen Kambasembi-Familie wurde vergangenen Jahres von seiner Regierung aus dem Ruhestand geholt, um als Vertreter Windhuks mit Berlin zu verhandeln.

Nachdem die Hereros während der über 80-jährigen südafrikanischen Fremdherrschaft (die der kurzen deutschen Kolonialzeit folgte) gar nicht daran denken konnten, die Gräueltaten der Schutztruppe zum Thema zu machen, wurde mit der Unabhängigkeit Namibias 1990 ein neues Kapitel aufgeschlagen: Jetzt konnten Repräsentanten das stark dezimierten Volkes endlich auf eine Verurteilung der gewalttätigen Landnahme – und auf Wiedergutmachung drängen. Dabei konnten sich die Herero auf neuere Studien berufen, die – wie diejenige des DDR-Historikers Horst Drechsler – den Krieg der Deutschen als „Genozid“ bezeichneten. Schließlich sei die Absicht des Schutztruppenkommandeurs Generalleutnant Lothar von Trotha ausdrücklich „die Vernichtung“ des Herero-Volks gewesen.

  Lange gab es aus Deutschland keine Reaktionen auf die neuen Töne aus Südwest. Wiederholt suchten selbst hochrangige Bonner Politiker die Ex-Kolonie auf, ohne das heikle Thema anzusprechen. Erst Entwicklungsministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul entschuldigte sich anlässlich der 100-Jahr-Feier der Schlacht am Waterberg für die damaligen „Gräueltaten, die heute als Völkermord bezeichnet würden“. Ein Recht auf Wiedergutmachung sollte sich aus diesem Zugeständnis allerdings nicht ableiten lassen.

Einigkeit zwischen Berlin und Windhuk

  Darin war sich Berlin verblüffender Weise mit der namibischen Regierung einig. Denn in Windhuk werden die Staatsgeschäfte vom Mehrheitsvolk der Ovambo dominiert, die ein eher gespanntes Verhältnis zu den Herero haben. Die Ovambo seien in vor allem darauf bedacht, „uns niederzuhalten“, sagt Chief Kapuuo: Weshalb sie zu verhindern suchten, dass das dezimierte Volk mit Geld entschädigt wieder einflussreicher werden könnten. Berlin und Windhuk gaben die Parole aus, dass die Deutschen ihre historische Schuld statt mit Sonderzahlungen an die Herero lieber mit Entwicklungsprojekten begleichen sollten, die allen Namibiern zugute kommen. Zumindest die „Aufgeklärten“ unter den Herero seien damit auch einverstanden, ist Diplomat Ngavirue – einer der eher wenigen Herero mit guten Beziehungen zur regierenden Swapo – überzeugt.

  Vekuii Rukoro gehört in diesem Fall nicht zu den „Aufgeklärten“, selbst wenn der Jurist einst in Oxford promovierte. Rukoro, der im Hauptberuf die Fleischverwertungsgesellschaft der kommerziellen namibischen Farmer „meatco“ leitet, darf sich „Paramount Chief“ der Herero nennen: Ein Königstitel, der nicht durch Blutsverwandtschaft, sondern durch eine Wahl verliehen wird. Obwohl sie dieselbe Muttersprache und auch sonst viele Gemeinsamkeiten haben, sind Rukoro und Ngavirue eingefleischte Kontrahenten: Der 30 Jahre jüngere Meatco-Chef wirft dem Ex-Diplomaten vor, ein „bloßer Staatsangestellter“ und Verräter an der Sache der Herero zu sein.   Umgekehrt ist Ngavirue peinlich darauf bedacht, Rukoro aus den Verhandlungen herauszuhalten, die er seit einigen Monaten mit Ruprecht Polenz, dem Sonderbeauftragten Angela Merkels in Sachen Namibia, führt.

Eine Verhandlungsgrundlage

Über den Stand der Gespräche schweigen sich beide Seiten aus: Fest steht lediglich, dass Ngavirue kürzlich ein 72-seitiges Papier als Verhandlungsgrundlage der namibischen Regierung vorgelegt hat. Darin enthalten ist auch das Resultat einer auf Weltbank-Studien basierende Computerberechnung, wonach der Vernichtungsfeldzug der Deutschen gegen die Herero einen finanziellen Gesamtschaden von 31,6 Milliarden US-Dollar verursacht habe. In dem Papier wird nicht gefordert, dass dieser Betrag an die Herero ausbezahlt werden müsse: Allerdings wird die Bildung eines Fonds vorgeschlagen, aus dem Monumente und Gedenkveranstaltungen, Partnerschaften sowie Entwicklungsprojekte finanziert werden sollen. Die höchst prekäre Landfrage wird gar nicht angesprochen.

  Hinrich Schneider-Waterberg sitzt auf der Veranda seines über 100-jährigen Farmhauses – den Blick auf den majestätischen Waterberg gerichtet und über das Buschland schweifend, auf dem vor 112 Jahren die berüchtigte Entscheidungsschlacht tobte. „Eigentlich war es gar keine Schlacht“, wendet der 84-Jährige ein. Der Farmer weiß über den Konflikt zwischen der Schutztruppe und den Herero mehr als jeder andere Mensch der Welt: Er nennt eine mehr als zweitausend Titel umfassende Namibia-Bibliothek sein eigen, hat Archive in Windhuk, London und Berlin durchwühlt und das unveröffentlichte Tagebuch des Schutztruppen-Kommandanten von Trotha gelesen. Vor allem Letzteres hat ihn in seiner Auffassung bestätigt, dass es sich bei dem Feldzug des Generalleutnants keineswegs um einen kaltblütig geplanten Völkermord gehandelt habe: Die Herero hätten der deutschen Umzingelung am Waterberg vielmehr entkommen können.

Kein Völkermord

Davon, dass von Trotha die Herero absichtlich in die Wüste trieb, Wasserstellen vergiften und mit seinen paar hundert Soldaten den fast 300 Kilometer langen Wüstenrand „abriegeln“ ließ, könne keine Rede sein, meint Schneider-Waterberg: „Einen Völkermord hat es niemals gegeben.“   Die jüngst im „Spiegel“ veröffentlichten Erkenntnisse des deutschstämmigen Farmers lösten in Fachkreisen Debatten aus: Auswirkungen auf die bilateralen Gespräche zwischen Deutschland und Namibia hatten sie allerdings keine. Unterhändler Ngavirue weiß von der Veröffentlichung gar nichts und hält die Einwürfe Schneider-Waterbergs auch für wenig überzeugend. Selbst wenn es keinen ausgesprochenen Vernichtungsbefehl gegeben haben sollte, seien die verheerenden Folgen der deutschen Kolonialisierung noch heute zu spüren: „Keiner kann bestreiten, dass die Herero dezimiert, ihr gesamtes Vieh starb oder gestohlen wurde und ihr Schicksal ruiniert war.“

  Privat sind Ngavirue und Schneider-Waterberg die besten Freunde. Der fließend Otschiherero sprechende Farmer wird wie ein Mitglied der adligen Kambasembi-Familie behandelt und gelegentlich als Berater zu Hilfe gezogen. Ngavirue kaufte vor wenigen Jahren einen Teil von Schneider-Waterbergs Farm, die dessen Vater nach der Vertreibung der Herero 1908 für 30.000 Reichsmark erworben hatte. Auf die Frage, ob er es nicht merkwürdig findet, das Land seiner Vorfahren für teures Geld zurück kaufen zu müssen, zuckt der Diplomat nur lächelnd die Schultern: Sie wollten die Deutschen nicht so behandeln, wie die Deutschen sie behandelt hätten, sagt der 83-Jährige stolz. Und außerdem sei er nicht auf Almosen angewiesen.

Zu viele Rinder in der Trockensteppe

  Letzteres trifft auf Richard Muharukua allerdings nicht zu. Der jahrzehntelang auf einer weißen Farm angestellte Rentner lebt mit 16 Familienmitgliedern auf einem sandigen Grundstück in Oganjira: Nachdem ihm die Dürre die letzten fünf Rinder raubte, sind drei Hütten aus Blech und vier Ziegen sein ganzer Besitz. Das 62.000 Hektar große Herero-Reservat von Ogandjira kann nach Auffassung von Experten rund 6000 Stück Vieh verkraften: Doch in Wirklichkeit drängeln sich bis zu 19 000 Rinder auf der Trockensteppe, die bei einer Dürre wie die Fliegen wegsterben. „Wie soll ich mein Verhältnis zu den deutschen Farmern beschreiben?“, wiederholt Muharukua die an ihn gerichtete Frage: „Die haben alles, wir haben nichts.“   In Windhuk berichtet ein deutschsprachiger Journalist, dass sich die Stimmung zwischen schwarzen und weißen Namibiern zunehmend verschlechtere: „Gelegentlich wird man bereits auf offener Straße beschimpft.“ Die Zahl der Namibier mit deutschen Vorfahren ist im Schwinden begriffen: Als es um Investitionen auf seinem Grundbesitz geht, sagt ein deutschstämmiger Farmer: „Na, warten wir mal ab.“ Herero-König Rukoro warnt unverblümt, dass die Geduld seiner Leute bald zu einem Ende kommen könnte: „Falls wir nicht an den Gesprächen beteiligt und keine Wiedergutmachung erhalten werden, wird in unserem friedlichen Namibia nichts mehr wie früher sein.“ Dem Paramount-Chief schweben offenbar bereits Verhältnisse wie während des Herero-Aufstands vor. „Und wenn die namibischen Sicherheitskräfte auf Geheiß der deutschen Regierung auf protestierende Hereros schießen, dann werden wir von einem zweiten Völkermord reden.“