Der Terroranschlag der Hamas ist für Israels Armee ein kolossales Versagen. Die Hamas ist offensichtlich selbst überrascht vom „Erfolg“ ihres Angriffs. Gerade dieser könnte sich für die Organisation als Katastrophe erweisen, meint ein Experte.
Den verheerende Terroranschlag im israelischen Grenzgebiet hat die im Gazastreifen herrschende Hamas offensichtlich über Monate minuziös geplant. Die islamistische Gruppierung war aber wohl selbst überrascht, wie viele Menschen sie letztlich im verfeindeten Israel töten konnte. Und wie wenig Widerstand die eigentlich klar überlegene israelische Armee zunächst leistete. Die Islamistenorganisation hat das schlimmste Blutbad in der Geschichte des jüdischen Staates angerichtet, mit mehr als 900 Toten und über 2600 Verletzten - darunter Frauen, Kinder und alte Leute.
Wie konnte so etwas Furchtbares passieren?
Israel hat jahrelang in eine hoch gesicherte Sperranlage an der Grenze zum Gazastreifen investiert, um Angriffe der Hamas abzuwehren. Dazu gehört auch eine unterirdische Mauer in mehreren Metern Tiefe, die mit Sensoren ausgestattet ist. Sie war als Gegenmittel gegen die unterirdischen Angriffstunnel der Hamas gebaut worden und galt als praktisch unüberwindbar.
„Am Morgen des 7. Oktober - ein Datum, das als einer der dunkelsten Tage des jüdischen Volkes in die Geschichte eingehen wird - ist Israels Sicherheitskonzept zerbröckelt, als Hamas-Terroristen über, unter und um den Gaza-Grenzzaun strömten“, schrieb die „Times of Israel“ am Dienstag.
Wie konnte die Hamas die israelische Armee überlisten, die als eine der besten der Welt gilt? Nach einem Bericht des „Wall Street Journal“ war das israelische Militär auf einen Angriff mit eher einfachen Mitteln nicht vorbereitet. Es habe Israel unvorbereitet getroffen, dass der etwa sechs Meter hohe Grenzzaun vom Gazastreifen aus mit Bulldozern niedergewalzt werden konnte. Das israelische Militär habe in der jüngeren Vergangenheit eher auf Technologie gesetzt und Bodentruppen abgebaut. Die Armee habe sich auf „den falschen Krieg vorbereitet“, zitierte das Blatt Avi Jager vom International Institute for Counter-Terrorism in Israel.
Professor Kobi Michael vom israelischen Institut für Nationale Sicherheitsstudien (INSS) sagte am Dienstag dazu: „Ich habe keine Ahnung, wie es zu diesem kolossalen Versagen kommen konnte.“ Das Vertrauen der Bevölkerung sei nachhaltig beschädigt. „Ich bin mir sicher, dass in Israel mittelfristig einige Köpfe rollen werden.“
Wer ist die Hamas?
Die Hamas (Abkürzung für „Islamische Widerstandsbewegung“) wurde im Zuge der palästinensischen Intifada Ende 1987 gegründet. Ihre Mitglieder haben mehrfach israelische Soldaten entführt und Selbstmordattentäter in israelische Städte geschickt. Die Organisation hat ihre Wurzeln in der ägyptischen Muslimbruderschaft. Gründer war Scheich Ahmed Jassin, der bis zu seiner Tötung durch einen gezielten israelischen Luftangriff im März 2004 auch der geistige Führer der Hamas war.
Nachdem die Hamas 2006 die Parlamentswahlen gewonnen hatte, übernahm sie ein Jahr später gewaltsam die alleinige Kontrolle über den Gazastreifen. Seitdem ist sie auch für die Versorgung der Zivilbevölkerung in dem Küstenstreifen zuständig.
In ihrer Charta fordert die Hamas die Zerstörung des Staates Israel und die gewaltsame Errichtung eines islamischen Staates Palästina vom Jordan bis zum Mittelmeer. Dies ist das übergeordnete Ziel der Gruppe, die von der EU, den USA und Israel als Terrororganisation eingestuft wird.
Was bezweckt die Hamas mit dem blutigen Terroranschlag?
Unmittelbare Ziele der Hamas sind die Aufhebung der jahrelangen Blockade des Gazastreifens und die Freilassung palästinensischer Häftlinge aus israelischen Gefängnissen. Derzeit befinden sich nach Angaben der Menschenrechtsorganisation Betselem rund 4.500 Palästinenser in israelischen Gefängnissen, davon 183 aus dem Gazastreifen. Ziel der Hamas dürfte es sein, möglichst viele Häftlinge im Austausch gegen mehr als 100 Geiseln - darunter auch ausländische Staatsbürger - freizupressen, die in das Palästinensergebiet verschleppt wurden. Übergreifendes Ziel bleibe jedoch Israels Zerstörung, meint Professor Kobi Michael vom Institut für Nationale Sicherheitsstudien (INSS) in Tel Aviv. „Sie glauben seit Jahren, dass sie die Erlösung durch bewaffneten Kampf herbeiführen können. Ihr Ziel ist es, größte Angst unter der Bevölkerung und Misstrauen zwischen Zivilgesellschaft und Militär zu säen.“
Sorge vor regionalem Flächenbrand
Die Hamas-Führung glaubt zudem, mit ihrem Vorgehen andere Akteure wie die schiitische Hisbollah-Miliz im Libanon und den Iran ermutigen zu können. Ziel sei es, Israel in einen Mehrfrontenkrieg zu treiben, um die Zerstörung des jüdischen Staates herbeizuführen.
Angesichts von Berichten über eine von den USA vermittelte Annäherung Israels an Saudi-Arabien hatten viele Palästinenser zuletzt das Gefühl, ihre nationale Sache sei auf das Abstellgleis geraten. Aus Sicht der Hamas, der libanesischen Hisbollah-Miliz und ihres wichtigsten Unterstützers Teheran wäre ein solches Bündnis von Nachteil. Der Iran bestreitet eine Beteiligung an dem Terroranschlag in Israel, während ein Hamas-Sprecher diese offen bestätigt hatte.
Angesichts tödlicher Scharmützel an der Nordgrenze Israels wird befürchtet, dass sich der Konflikt zu einem regionalen Flächenbrand ausweiten könnte. Dass die USA einen Flugzeugträger, Kriegsschiffe und mehrere Kampfflugzeuge ins östliche Mittelmeer nahe Israel verlegen, wird als deutliches Warnsignal an die Hisbollah-Iran-Achse gewertet, sich aus dem Konflikt herauszuhalten.
Vom eigenen Erfolg überrascht
Die Hamas sei selbst vom „Erfolg“ ihres Großangriffs überrascht gewesen, meint Michael. Ein hochrangiger Hamas-Funktionär sagte am Dienstag: „Wir haben bewiesen, dass man diese Armee überlisten und ihre Schwäche aufzeigen kann.“ Als Grund für den Angriff nannte er Israels Vorgehen im besetzten Westjordanland und auf dem Tempelberg (Haram al-Scharif) in Jerusalem, der Juden und Muslimen heilig ist. Die Palästinenser werfen der rechts-religiösen Regierung von Benjamin Netanjahu vor, die israelische Kontrolle über das Heiligtum ausweiten zu wollen. Zudem setzen sich rechtsextreme Minister in der Regierung für eine weitere Besiedlung des Westjordanlandes ein. „Darum hat der Widerstand zurückgeschlagen“, sagte der Hamas-Repräsentant.
Grauenvolle Details über das Massaker
Auch Tage nach dem Massaker an der israelischen Zivilbevölkerung in Grenzorten und bei einem Musikfestival kommen immer mehr grausame Details über das Morden ans Licht. Armeesprecher Daniel Hagari bezeichnete die Hamas am Dienstag als „IS-ähnliche Einheit“. Sie habe sich „auf die Liste der mörderischsten und barbarischsten Organisationen in der Geschichte gesetzt“.
Gerade der vermeintliche Erfolg der Hamas werde sich am Ende als kontraproduktiv erweisen, „weil er eine große Katastrophe über sie bringen wird“, meint Michael.
Kann Israel die Hamas zerstören?
Israel habe nun gar keine andere Wahl, als die militärischen Fähigkeiten der Organisation vollständig zu zerstören, sagt der Experte. Das sei grundsätzlich auch möglich.
Auch die politische Führung müsse bei der Operation „gnadenlos zerschlagen werden“, meint er. „Man muss die ganze Hamas-Führung töten und alle Kommandozentren zerstören.“ Man könne zwar „nicht die Idee von Hamas zerstören, aber die Infrastruktur schon“.
Eine riskante israelische Bodenoffensive in dem dicht besiedelten Palästinensergebiet sei dafür vermutlich notwendig, diese könne aber begrenzt bleiben. „Man muss nicht jede Gasse kontrollieren“.