Gezim Myshketa, Diana Haller, Edgardo Locha in „Die Puritaner“ Foto: Schaefer

Bei der Premiere von Vincenzo Bellinis 1835 uraufgeführter letzter Oper beweisen Solisten, Chor und Orchester unter Giuliano Carellas Leitung eindrucksvoll, welche musikalische Exzellenz in Stuttgart möglich ist. Beglückender kann Musiktheater nicht sein.

Stuttgart - Sie könnte Pipi Langstrumpf sein. Auf einem Bein hüpfen und singen: Hollahi, hollaho, hollahopsassa. „Ich mach mir die Welt, widewide, wie sie mir gefällt“: Das könnte auch das Lieblingslied Elviras sein. Und ihr Lebensmotto. Am Freitagabend, bei der Stuttgarter Premiere von Bellinis Oper „Die Puritaner“, ist Elvira ein Mädchen aus dem Zwischenreich zwischen dem Traum der Kindheit und dem Trauma des erwachsenen Erwachens. Noch springt sie über die Bühne, noch ist eine Spielzeugkiste ihr ein und alles, ihre ganze Welt, und während im Orchester die Hörner von jenen Kämpfen und Jagden künden, die die Welt um sie herum und die Grundfarbe des Stücks bestimmen, zeigen der inszenierende Stuttgarter Opernintendant Jossi Wieler und sein Chefdramaturg Sergio Morabito als Ko-Regisseur die Sopranistin Ana Durlovski, die auch hier wieder Koloraturketten mit delikaten Farben abtönt, die herrlich leise Töne derart in höchster Höhe präsentiert, dass man sie für lebendige Wesen halten kann, und die sich hier derart in die Lektüre eines kleinen Heftchens vertieft, dass die Szene um sie herum eigentlich nur eine Projektion sein kann.

Elvira könnte auch Dornröschen sein; mit ihr gemeinsam sind alle anderen eingeschlafen. Auf dem Boden liegen verkrampfte Menschen: reglos; manche halten Bibeln in starr emporgereckten Händen. Die Sänger des Staatsopernchores sind jene Puritaner, die im England des mittleren 17. Jahrhunderts in blutigem Krieg mit der katholischen Königssippe lagen, Eiferer des Glaubens, verhärmt, verhärtet. Als sie sich erheben, zucken sie wie Zombies: So starr, so künstlich, erscheint Wieler und Morabito diese mehr tote denn lebendige Gesellschaft. Und so weit weg sind diese fremdbestimmten, funktionierenden, unsinnlichen Menschen von der Welt des träumenden Mädchens, dass sie womöglich – wer weiß – auch nur deren Comicheft oder ihrer Fantasie entsprungen sind.

Bezaubernder Entführer in die Welt der Träume

Elvira könnte auch Senta sein, das Mädchen aus Wagners „Fliegendem Holländer“, das sich ein Ideal von Mann herbeiträumt. Wer und wie das sein könnte, erspürt Elvira, die noch gar nicht weiß, was Liebe sein kann, durch schiere Nachahmung. Auch Diana Haller ist mit ihrer Präsenz, Präzision und Farbfülle ein Juwel im Stuttgarter Ensemble, das sich hier auch mit den „Urgesteinen“ Heinz Göhrig und Roland Bracht in kleineren Partien sehr gut präsentiert. Die Mezzosopranistin gibt die Enriquetta, Gefangene der Puritaner und Witwe des ermordeten Königs; sie wendet Gemälde um, die an der Wand von Anna Viebrocks kirchenähnlichem Mehrzwecksaal lehnen, und es ist nicht nur eine Schlüsselszene der Inszenierung, sondern auch einer der anrührendsten Momente des Abends, als Elvira, hinter der Älteren stehend, genau wie diese die Figuren auf den Gemälden zärtlich berührt und küsst. Einer vor allem zieht die Hingabe der Frauen auf sich: ein Mann mit Königsrobe, Säbel und Federhut, ein herrlicher Held, ein Märchenprinz.

Abrakadabra! Da ist er schon und natürlich Tenor (Edgardo Rocha). Tritt von hinten auf mit aller Macht und Pracht. Sieht aus wie König Alfons der Viertelvorzwölfte, erklimmt mit seiner Stimme höchste Höhen, meistert lange Strecken voller kurzer, schneller Töne, ist nahezu frei von gängigen Marotten seiner Stimmfachkollegen und wirft vor den Augen des belustigten Opernpublikums seinen Hut in die Menge der verdrucksten Puritanerladys. Die Regisseure haben sich dieses Bild von einem Mann ausgedacht, aber herbeigeträumt hat ihn Elvira. Und geholfen hat ihr einer, der ebenfalls anders ist als die anderen, ihr Onkel Giorgio. Adam Palka, ein wunderbar volltönender und mindestens ebenso wundervoll spielender Bass, der nur gelegentlich seine Dynamik noch ein wenig abstufen könnte, ist der bezaubernde Entführer in die Welt der Träume, der Traumlogik und der Kunst: eine Welt, die selbst künstlichste Gesangskaskaden als natürliche Äußerung und selbst aberwitzige Volten und Unwahrscheinlichkeiten der Handlung wie selbstverständlich wirken lässt.

Zuschauer kommen aus dem Staunen nicht heraus

Die Kunst-Welt der Oper ist ein Traum, und wie der funktioniert, haben Wieler und Morabito, immer mit Blick auf den Vater aller Traumdeutungen, so fein und so klug herausgearbeitet, dass die Zuschauer aus dem Staunen nicht herauskommen. Sie dürfen manchmal lächeln – aber nie auf Kosten von Figuren, die fühlen. Und vor allem werden die Zuschauer erlöst von der gängigen Vorstellung, bei „Die Puritaner“ handle es sich um ein unzusammenhängendes Kolportage-Stück mit schöner Musik, aber nur schablonenhaften Charakteren. Sie erleben, wie Disparates plötzlich zusammenpasst oder wie sich Brüche organisch in die Handlung integrieren. Die drängt weiter, immer weiter. Das ist auch das Verdienst des hoch dramatisch, ja fast schon im Ton von Verdis frühen Opern singenden Staatsopernchores – und ein Verdienst des Dirigenten Giuliano Carella, der nicht nur die Sänger und die sehr gut einstudierten Ensembles sehr individuell begleitet, sondern auch die Tendenz zu weiten Bögen im Stück, das Aufgehen einzelner Nummern in großen Szenen mit rhythmisch-metrischer Präzision und einer ausgesprochen differenzierten Behandlung der Lautstärkegrade weiter befördert.

Wo möglich, schieben die Regisseure plausible Erklärungen ein (wie etwa die Tatsache, dass Gezim Myshketa als samtig tönender, nur manchmal etwas zu hoch intonierender baritonaler Rivale des Traumprinzen dessen Botschaft an Elvira verbrennt, sodass sich diese betrogen fühlen muss). Und manchmal spielen sie auch einfach ein wenig mit dem Wechsel zwischen Wahn und Wirklichkeit, Figur und Rolle: Von hochvirtuos durchinszeniertem, anrührendem Hin und Her von Verschleierung und Enthüllung, Schein und Sein lebt etwa das berühmte Quartett am Ende des ersten Aktes – auch wenn dies durch die ungleichmäßige Verteilung der Sänger im Raum musikalisch nicht immer homogen wirkt. Auch an manchen Requisiten, die auftauchen, aber später erst im Text benannt werden, an kleinen Szenen, Gesten, Aktionen bemerkt man die Genauigkeit Wielers und Morabitos bei der Textlektüre.

Der Schluss trägt dick auf

Am Ende indes ist der Traum ausgeträumt, das Märchen vorbei. Die Seitenwände der halbsakralen Mehrzweckhalle haben aufgehört, sich zusammen- und wieder auseinanderzubewegen. Ein kleines Mädchen, eben so eines, wie es Elvira früher gewesen sein könnte, eben so eines, wie es eben noch aus den Fenstern eines kleines Puppenhauses herausschaute, hat Flugblätter vom Quersteg oben hinunter auf die Bühne geworfen. Die Befreiung aller Gefangenen wird auf den Zetteln verkündet, aber in Stuttgart wirkt dies wie reine Ironie, denn unfreier als jetzt war vorher niemand. Der Onkel: abgestumpft und gleichgeschaltet. Elvira: desillusioniert, traumatisiert vom Schock der Adoleszenz, der ein Erwachen aus einer Traumwelt ist. Ihr sind die Augen aufgegangen Arturo, der Held: In seinen Armen das Kind ist tot. Er ist ein Versehrter auf dem Boden der Tatsachen, den die Regisseure (und das ist vielleicht doch ein bisschen zu dick aufgetragen) im dritten Akt als symbolträchtig Erblindeten auf die Bühne schicken. Am Ende drückt ihm Giorgio wortlos eine Bibel in die Hand: Willkommen im Club. Elvira könnte auch Amina sein. Als solche wäre sie direkt von Jossi Wielers und Sergio Morabitos „La Sonnambula“ hinüber in „Die Puritaner“ geschlafwandelt. Auch für das Publikum ist das ein Traum.

Nochmals am 11., 14., 17. und 27. Juli. Karten: 07 11 / 20 20 90