Wolfram Siebeck (1928–2016) Foto: dpa

Im Alter von 87 Jahren ist Restaurantkritiker und Autor vieler Kochbücher der Kenner gestorben.

Stuttgart - Die „Grundzüge des gastronomischen Anstands“ von Grimod de la Reynière sind so etwas wie das Manifest der Feinschmecker des 19. Jahrhunderts. Die Ratschläge des 1837 gestorbenen aristokratischen Gastro-Philosophen müssen ganz auf Linie von Wolfram Siebeck gewesen sein, der 150 Jahre nach de la Reynière die Sinne der Deutschen für die gute Küche weckte. Schnickschnack beim Essen gefiel Siebeck genau so wenig wie dem Franzosen, der im sechsten Kapitel seines Buches „Von der Weise, auf welche die Weine zu servieren und zu trinken sind“ stoßseufzte: „Dank der jetzigen Methode, dergemäß die Flaschen und Gläser sich auf der Tafel selbst befinden und die jedem Gaste gestattet, zu trinken, wenn er Durst hat“. Wer von Wolfram Siebeck und seiner Frau Barbara in die Ortenau zu Tisch gebeten wurde, wo sie auf Burg Mahlberg eine Etage bewohnten, erfuhr, was lässiger Stil ist. Wichtig war, was auf dem Teller lag und im Glas schäumte, Ausstattungszauber im Essraum und Serviergetue waren nicht nötig.

Von der Terrasse der Siebecks geht der Blick weit ins Land – auch in Richtung Frankreich. Auf die Heimat der alten und der neuen Küche war Siebecks Kompass ausgerichtet. Wen er bewirtete, der musste mit allem Rechnen, mit Bries, Nieren oder den von ihm geliebten Cuisses de grenouilles. Für den neudeutschen Ekel vor sautierten Schenkeln, die einst zu Fröschen gehörten hatte der Meister der Zunge nur Verachtung übrig. Wer Wolfram Siebeck beleidigen wollte, musste nur Wort wie vegan oder vegetarisch fallen lassen.

Ein Mann auf Seiten der Aufklärung

Siebeck lehnte es ab, sich Kritiker zu nennen, er erklärte sich zum „Berufsesser“ – und war viel mehr. Das Wort war seine Waffe, weil er schreiben konnte wie wenige in seinem Fach. Und in anderen Ressorts. Für Siebeck war Essen nicht allein Essen. Der Sinn für das, was wir verzehren, ging für ihn einher mit einem heute etwas überholten Begriff: Haltung. Das Herz des einst langmähnigen Schildermalers und Grafikers, der Siebeck von seiner Ausbildung her war, der in den letzten Tagen des Zweiten Weltkriegs noch als Flakhelfer gezwungen worden war, auf Russen zu schießen, schlug links. Und bis zuletzt, bis Donnerstag, als es mit 87 Jahren verstummte, klopfte es auf der Seite der Aufklärung. Kulinarisch, politisch, in Sachen der Lebensart.

Als Kolumnist der „Zeit“ war ihm wohl die größte Anhängerschaft zugewachsen – dreißig Jahre kreierte er für das Magazin der Wochenzeitung ein Weihnachtsmenü. Er blieb aktiv, auch als ihm die Hamburger bedeuteten, nun müssten mal Jüngere ran. Im Juli 2011 ging der in Ehren Ergraute mit der Zeit und eröffnete seinen Blog Wo-isst-Siebeck.de. Dort hielt er sich noch weniger zurück als zuvor. In seinem letzten Eintrag im Oktober 2015 kam er rasch von der erfolgreichen Schweizer Drei-Sterne-Küche über Hartkäse auf die Blocher-Bewegung: „Sie haben eine Ähnlichkeit mit unserem rechtsextremen Gesocks, das sich in sächsischen Städten zusammenrottet und Hassgesänge gegen Ausländer anstimmt.“ Böse Kommentare folgten. Die waren nichts Neues für Siebeck. Wer austeilt, muss einstecken. Der 1928 in Duisburg Geborene hat meist Klartext geschrieben, wie gestochen. Das gleiche Urteil im Gespräch wirkte milder, weil Siebeck, der im Alter in einer seiner geliebten Westen immer mehr einem gütigen Patron glich, dieses besondere Lächeln um die Augen hatte.

Gemüse mit Biss, Fisch und Fleisch nicht totgekocht

1958 hat er in der Kult-Zeitschrift „Twen“ begonnen, über Essen, Rezepte und Restaurants zu schreiben. Viele Jahre noch war er auch als Filmkritiker unterwegs, oft in Frankreich. Dort entdeckte er, der in seiner Kindheit an deutscher Mehlschwitze, Kohl und zerkochten Erbsen gewürgt hatte, Nouvelle und Haute Cuisine. Die großen beiden Pauls – Bocuse und Haeberlin – brachten ihn auf den Geschmack. Siebeck wiederum wollte die Deutschen von ihrem schlechtem abbringen. Wie der Koch Eckart Witzigmann im Münchner Tantris, dessen Klasse Siebeck Anfange der Siebziger erkannte und publizistisch verteidigte. „Gemüse hatte Biss, Fisch und Fleisch waren nicht zu Tode gekocht“, erinnerte sich Witzigmann kürzlich. Was damals die Esser verstörte, ist heute Standard. Siebeck sei Dank. Obwohl er auch da eigen sein konnte: Spargel akzeptierte er nur zuzelweich – also zerkocht.