Debattieren am Wendlinger Robert-Bosch-Gymnasium. Foto: Roberto Bulgrin

Der Lehrer Jochen Strehle fördert demokratischen Streit bei Schülern – und sagt, wie richtig Debattieren funktioniert.

Stuttgart - Demokratie bedeutet Streit. Doch die Debattenkultur in Deutschland ist bedroht. Den einen geht es zu polarisiert zu. Die anderen beklagen zu enge „Grenzen des Sagbaren“. Umso wichtiger, dass Schüler lernen, richtig demokratisch zu streiten, betont Jochen Strehle, Englisch- und Französischlehrer und Landesbeauftragter für den Wettbewerb „Jugend debattiert“.

Herr Strehle, Helmut Schmidt hat mal gesagt, eine Demokratie, in der nicht gestritten wird, ist keine. Hat er recht?

Besser kann man es gar nicht sagen. Die Kontroverse befördert die demokratische Willensbildung. Zu viel Kompromisssucht ist gar nicht gut.

Müssen Schüler, um Demokratie zu lernen, lernen zu streiten?

Absolut. Schüler müssen lernen, dass man argumentativ ins Wortgefecht ziehen kann, ohne dabei persönlich und beleidigend zu werden. Das ist zwingend Voraussetzung. Und das muss und kann man lernen.

Warum sind laut aktueller Jugendstudie Baden-Württemberg so viele Jugendliche unzufrieden mit der Demokratie?

Die Parteien bieten den Jugendlichen vielleicht zu wenige Lösungen für ihre Lebenswelt an. Jugendliche durchschauen die ständige Kompromisssucht nicht. Vielleicht wünschen sich Jugendliche, dass man mehr Kontroversen führt, aus denen sich mehr Lösungen für sie ergeben. Den Kompromiss am Ende kann es erst geben, wenn man alle Punkte ausgestritten hat.

Was verstehen Sie unter Kompromisssucht?

Man verzichtet zu schnell darauf, große Pflöcke einzurammen, und sucht lieber schnell den winzigsten gemeinsamen Nenner, wogegen dann niemand etwas haben kann. Da reicht dann der Kompromiss nicht weit genug. Beispiel: Umweltpolitik, wo es lange um kleine Ziele etwa bei der CO2-Einsparung ging. Das ärgert die Jugendlichen sehr, weil sie möchten, dass man wirklich etwas für das Klima und die Zukunft tut.

Die einen beklagen eine Polarisierung in Debatten, die anderen enger werdende „Grenzen des Sagbaren“. Stellen Sie diese Zerrissenheit auch unter Ihren Schülern fest?

Manchmal trauen sich Schüler nicht, die Dinge klar anzusprechen, weil sie das auch bei ihren Vorbildern in der Erwachsenenwelt so sehen. Sie meinen, man dürfe gewisse Dinge nicht klar benennen, um niemanden zu verletzten.

Und welche Erfahrungen machen Sie mit der Polarisierung?

Die Schüler treibt auch um, dass es gerade am rechten politischen Rand teilweise zu deftigen Aussagen kommt. Da wundern sie sich, wie das denn sein darf, und finden dies in der Mehrzahl nicht gut.

Wie immunisiert man Schüler gegen Verschwörungstheorien?

Indem man ihnen beibringt, echte Nachrichten von „Fake-News“, also falschen Nachrichten, zu unterscheiden.

Welchen Einfluss haben soziale Medien auf die Debattenkultur Ihrer Schüler?

Soziale Medien üben einen großen Einfluss aus, weil sie schnell Botschaften an ihre Adressaten bringen. Diese Botschaften sind oftmals ansprechend formuliert, rhetorisch clever aufbereitet und können sich darauf stützen, dass Jugendliche viel Zeit mit sozialen Medien verbringen. Aber die Dinge werden verkürzt, Belege werden meist nicht geliefert. Wenn man da nicht aufpasst und die Schüler nicht früh genug instruiert, welche Gefahren dort lauern und wie sie diese erkennen, nehmen die Schüler diese Botschaften für bare Münze.

Wie wichtig für eine demokratische Debattenkultur ist der Qualitätsjournalismus?

Der ist sehr wichtig. Nicht umsonst wird dieser die vierte Säule der Demokratie genannt. Egal in welcher medialen Darbietungsform, ob in der Zeitung, im Fernsehen, im Radio oder im Internet, es ist eminent wichtig, dass wir diesen Qualitätsjournalismus haben. Wichtig ist aber auch, dass er in einer Form präsentiert wird, die für Jugendliche zugänglich ist.

Was kann man denn unternehmen, wenn sich die Vertreter gegensätzlicher Meinungen in einer Debatte nicht einmal über die Fakten einig sind?

Über Fakten als solche muss man sich eigentlich einig sein, wenn es ein Fakt ist. Man kann sich nur über unterschiedliche Interpretationen von Fakten streiten und muss dann auch nicht unbedingt zusammenkommen. Fakten und Statistiken werden von unterschiedlichen politischen Lagern unterschiedlich interpretiert, um daraus einen unterschiedlichen Weg abzuleiten. Das ist ganz normal.

Wie erreicht man einen gemeinsamen Nenner, der für die Demokratie ja unerlässlich ist?

Bei „Jugend debattiert“ stellen wir immer nur eine konkrete Maßnahme zur Zustimmung oder Ablehnung zur Debatte. Wird die Maßnahme abgelehnt, muss sie nachbearbeitet werden, um in einer weiteren Debatte die Chance zu bekommen, angenommen zu werden. Auf diese Weise nähern wir uns einer Konsenslösung an. Das ist zeitaufwendig. Aber so funktioniert Demokratie.

Wie streitet man demokratisch richtig? Können Sie uns dafür eine Kurzanleitung geben?

Zunächst einmal legt man seine Argumente sachlich richtig – ohne Polemik und Angriffe – dar. Man muss sie auch mit Beispielen richtig begründen, nicht nur Thesen in die Welt stellen. Dies müssen beide Seiten tun. Dann akzeptiert man die andere Meinung, man wertet sie nicht ab, sondern nimmt sie zur Kenntnis und versucht, das Gehaltvolle daran vielleicht auch bei sich selber aufzunehmen und auch mal etwas zuzugestehen. Eine Einigung besteht in einem Kompromiss: Man macht Zugeständnisse, auch wenn dies nicht ganz den eigenen Vorstellungen entspricht. Das ist richtiges demokratisches Streiten.