Siedler aus Württemberg haben über mehrere Generationen im Hinterland von Odessa gelebt. Ihre Nachfahren helfen nun den Opfern des Krieges in der Ukraine.
Der Zar rief – und die Kolonisten kamen: Nachdem seine Truppen den dünn besiedelten Landstrich erobert hatten, warb Alexander I. im Jahr 1813 gezielt Siedler an. Er lockte mit Privilegien, zum Beispiel Religionsfreiheit, Landschenkung, Selbstverwaltung, Befreiung vom Militärdienst. Es waren viele Württemberger unter den deutschen Auswanderern, die im 19. Jahrhundert in den Süden des damaligen Russischen Kaiserreichs übersiedelten, sie flohen vor Naturkatastrophen und den Auswirkungen der Napoleonischen Kriege, voller Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Ihre Dörfer nannten sie Friedensfeld und Hoffnungstal, aber auch Pharaonowka und Paris.
Über fünf Generationen lebten die Bessarabiendeutschen auf dem Territorium der heutigen Republik Moldau und eines Teils der Ukraine – bis 1940. Als Folge des Hitler-Stalin-Pakts fiel Bessarabien an die Sowjetunion, die inzwischen fast 100 000 Bessarabiendeutschen wurden umgesiedelt. Sie kehrten in die alte Heimat zurück, viele davon in die Region Stuttgart.
So kommt es, dass zwar rund 2000 Kilometer zwischen Württemberg und Bessarabien liegen – und doch enge Beziehungen zu dem Landstrich in Südosteuropa bestehen. „Nach dem Zerfall der Sowjetunion haben wir Kontakte zu den heutigen Bewohnern geknüpft“, berichtet Hartmut Knopp, Bundesgeschäftsführer des Bessarabiendeutschen Vereins mit Sitz in Stuttgart. Der Verein will vor allem die Kultur und die Traditionen der einstigen deutschen Bewohner in Bessarabien lebendig halten.
Die Dörfer sind teils verwaist
Jetzt treibt die etwa 1800 Vereinsmitglieder natürlich etwas anderes um: der Krieg. Noch sei es auf den Dörfern relativ ruhig, sagt Knopp – aber auch fernab der großen Städte hat es schon Raketenangriffe auf die Infrastruktur gegeben. Die Lebensmittel in den Supermärkten werden knapp, die Leute bekommen kein Bargeld mehr, der Schulunterricht ist weitgehend eingestellt, die Menschen haben Angst. „Jetzt im März müsste dort eigentlich die Feldarbeit beginnen, das Land ist so fruchtbar. Aber wie soll das gehen?“, fragt sich Knopp. Wovon sollen die Bewohner Bessarabiens leben? Es sei immer schwieriger, in Kontakt zu bleiben, berichtet er. „Die Kommunikationswege brechen ab.“ Zumal viele Jüngere ihr Glück in größeren Städten gesucht haben und nur noch die Alten in den Dörfern geblieben sind.
Vereinsmitglieder mobilisieren Kontakte und helfen, wo sie können: Paletten mit Hilfsgütern wurden an die ukrainische Grenze transportiert und Geld für Flüchtlingslager in Rumänien und Moldawien gesammelt. Eines der Hilfsprojekte hat der Dettinger Simon Nowotni, dessen Großmutter aus Bessarabien floh, zusammen mit Martin Salzer, Schulleiter an der Georg-Goldstein-Schule in Bad Urach, ins Leben gerufen. „Ermstal hilft“ wird auch von den Gemeinden Dettingen und Bad Urach (Kreis Reutlingen) unterstützt. Neun Hilfstransporte wurden bereits organisiert.
Nowotni und Salzer sind selbst in die Südukraine gefahren, um Lebensmittel, warme Kleidung, Hygieneartikel und Verbandsmaterial abzuliefern. „Wir bekommen von den Ukrainern Listen, was sie gezielt brauchen“, sagt Salzer, der kein Nachfahre von Bessarabiendeutschen ist, aber durch das Austauschprogramm seiner Schule Land und Leute kennengelernt hat. Auf dem Rückweg nehmen die Helfer flüchtende Familien mit, die privat untergebracht werden, teils aber auch erst einmal in der Jugendherberge in Bad Urach. Während dem Bessarabiendeutschen Verein die Kapazitäten fehlen, eine private Vermittlungsbörse für Geflüchtete zu organisieren, geht die Initiative von Nowotni und Salzer einen Schritt weiter: „Wir sagen den Menschen, die um Hilfe bitten: Wir kriegen euch unter!“, sagt Salzer. Drei Ukrainer, die zu den ersten Flüchtlingen gehörten, unterstützen sie dabei. „Das sind unsere drei Engel im Hintergrund.“
Hilfe für eine Region in Südosteuropa
Bessarabiendeutsche
Die historische Landschaft wird begrenzt vom Schwarzen Meer im Süden sowie den Flüssen Pruth im Westen und Dnister im Osten. „Bessarabien“ leitet sich vom Namen des walachischen Fürstenhaus Basarab ab, das dort einst herrschte. Die Bessarabiendeutschen lebten zwischen 1814 und 1940 in Bessarabien, das heute auf dem Territorium der Republik Moldau und einem Teil der Ukraine liegt. Zur Wahrung ihres Kulturerbes gründeten die Deutschen aus Bessarabien 1952 ein Heimatmuseum in Stuttgart, es ist im Haus der Bessarabiendeutschen, Florianstraße 17.
Spenden
Der Bessarabiendeutsche Verein hat aktuell ein Spendenkonto „Flüchtlingshilfe“ eingerichtet: Bessarabiendeutscher Verein, IBAN: DE33 5206 0410 0000 6091 53 Kennwort: „Flüchtlingshilfe“. Auch „Das Ermstal hilft“ hat ein Spendenkonto: IBAN: DE57 6409 1200 0226 7790 25, Konto der Bürgerstiftung Dettingen/Erms.