In der Königstraße ist vom Bevölkerungsschwund nichts zu sehen: Doch Stuttgart hat statistisch gesehen beim neuen Zensus über Nacht mehr als 20.000 Einwohner verloren. Foto: dpa

Für die Städte und Gemeinden ist jeder Bürger bares Geld wert. Denn an der Einwohnerzahl orientiert sich auch die Verteilung von Steuergeldern über den Finanzausgleich. Umso böser ist das Erwachen von Kommunen, die laut der Zensus-Zählung stark geschrumpft sind.

Stuttgart - Sollten sich die Ergebnisse der jüngsten Volkszählung auch juristisch als hieb- und stichfest erweisen, steht die Landeshauptstadt Stuttgart vor deutlichen finanziellen Einbußen. Neun Millionen Euro sind es im kommenden Jahr, 13 Millionen fehlen 2015, und mit gar 15 Millionen Euro weniger Geld muss der Finanzchef wohl im Jahr 2016 auskommen. Weil die Einwohnerzahl beim bundesweiten Zensus-Vergleich um 3,6 Prozent nach unten korrigiert wurde, fließen in den nächsten drei Jahren 37 Millionen Euro weniger in die Stadtkasse.

Der Hintergrund: Bei der Verteilung von Steuergeld und Fördermitteln an die Städte und Gemeinden orientiert sich Vater Staat in der Regel an den Einwohnerzahlen. Wenn man so will, ist fürs Rathaus jeder Bürger jährlich etwa 1800 Euro wert. Mit nur noch 585.890 Menschen, die nach der aktuellen Zensus-Berechnung in Stuttgart leben, bleibt auch für Stadtreinigung, Grünpflege oder Kindertagesstätten weniger Geld.

Kein Wunder, dass Stuttgart deshalb überlegt, das Ergebnis der Volkszählung vor Gericht überprüfen zu lassen. Zwar ist noch unklar, ob die finanziellen Einbußen wirklich so massiv ausfallen wie befürchtet. Weil das Land Baden-Württemberg auch insgesamt bei der Einwohnerzahl um 2,5 Prozent geschrumpft ist, könnte der Finanzausgleich den Effekt noch abmildern.

Methodik der auf Stichproben basierenden Volkszählung sehen Statistikexperten kritisch

Seine Bürger aber will sich das Rathaus dennoch nicht nehmen lassen – zumal die Zahlen im Melderegister teils deutlich von den beim Zensus neu errechneten Daten abweichen. Ohnehin wird die Methodik der auf Stichproben basierenden Volkszählung unter Statistikexperten kritisch gesehen. „Was uns nachhaltig irritiert, ist die fehlende Transparenz. Es kann doch nicht sein, dass einer Stadt der Einblick in ihre eigenen Zensus-Unterlagen verwehrt bleibt“, beschwert sich Stefan Gläser vom Städtetag.

Mit dem Protest gegen den personellen Aderlass steht Stuttgart nicht allein. Wegen der vermeintlichen Fehler bei der Volkszählung rollt eine Klagewelle von vom Einwohnerschwund betroffenen Kommunen auf die Verwaltungsgerichte zu. Nach einer Mitteilung des Statistischen Landesamts in Stuttgart hat bereits jede dritte Kommune im Südwesten offiziell Widerspruch gegen das Ergebnis der Erhebung eingelegt.

Zwar glaubt die Präsidentin der Landesbehörde, Carmina Brenner, dass viele Rathäuser sich vor allem vorsorglich gegen die Zensus-Zählung gewandt haben. Sollten die Ergebnisse korrigiert werden, so die Lesart, will kein Bürgermeister sich den Vorwurf machen lassen, die Chance zum Widerspruch verpasst zu haben. Vor einem tatsächlichen Rechtsstreit aber könnten kleine Gemeinden durchaus zurückschrecken.

In der Region spielen 14 Kommunen mit Gedanken zu klagen

Beim Städtetag allerdings wird diese Auffassung nicht geteilt. „Wir meinen, bei der Zensus-Erhebung eine Fehlerhaftigkeit zu sehen“, sagt Stefan Gläser. Der geschäftsführende Vorstand rechnet damit, dass etwa 400 Städte im Südwesten ernsthaft über eine juristische Prüfung der Volkszählung nachdenken. Schon vor dem Ablauf der Widerspruchsfrist haben 365 Kommunen ihren Protest kundgetan, täglich werden es mehr. Allein in der Region Stuttgart überlegen sich nach Informationen der Stuttgarter Nachrichten insgesamt 14 Kommunen mit mehr als 10.000 Einwohnern den Weg vors Verwaltungsgericht. Herrenberg findet sich ebenso auf der Liste der Widerspruchskommunen wie Fellbach, Filderstadt und Schorndorf, auch in Waiblingen hat der Gemeinderat laut Stadtsprecherin Birgit David grundsätzlich grünes Licht für eine Klage gegeben. Die Stadt muss fürchten, dass ihr durch den Einwohnerschwund jährlich etwa 1,8 Millionen Euro an Landeszuschüssen verloren gehen.

Sogar 3, 2 Millionen Euro Verlust pro Jahr drohen der Stadt Esslingen – im Moment wird intern fieberhaft geprüft, wie die Differenz zwischen der Einwohnerzahl im Melderegister und dem Zensus-Ergebnis zustande kommen könnte. „Wir müssen erst herausarbeiten, woran das liegt“, erklärt Bruno Vogt auf die Frage nach den etwaigen Fehlern im Zensus-Ergebnis. Der Leiter des Esslinger Rechtsamts sitzt übrigens auch in dem Arbeitskreis, den der Städtetag zur Klärung der offenen Punkte gebildet hat. Bis Ende Oktober müssen die Kommunen ihren Widerspruch gegen die Ergebnisse begründet haben. Auffällig ist beispielsweise, dass Hochschulstädte in der Regel die größten Abweichungen haben.

In der Region hat der Kreis Ludwigsburg mit 1,7 Prozent den geringsten Rückgang, Esslingen liegt mit 2,4 Prozent Minus an der Spitze. Allerdings gibt es auch Kommunen, die vom Zensus profitieren. Sindelfingen und Magstadt haben mehr Einwohner als gedacht, Uhingen oder Mundelsheim wachsen gar um über zwei Prozent. Die Region Stuttgart insgesamt verliert unterm Strich 2,4 Prozent. Wobei der Chefplaner Thomas Kiwitt die Aufregung der Rathauschefs um angebliche Fehler nicht verstehen kann. „Der demografische Wandel lässt sich auf dem Rechtsweg nicht aufhalten“, betont er. Die Region sieht Kiwitt durch die Volkszählung eher gestärkt denn geschwächt – weil sie weniger Einwohner verliert als das Land.