Laura Siegemund hat den Porsche Tennis Grand Prix für sich entschieden. Foto: Pressefoto Baumann

Die Schwäbin steckt in einem packenden Finale auch einen Schiedsrichterskandal weg und befindet sich nun wieder unter den Top 30. Siegemund hat noch Großes vor: „Ich habe das Beste noch vor mir“.

Stuttgart - Barbara Rittner hat ein paar Mal die Erde umrundet als Tennis-Globetrotterin, viele Jahre als aktive Spielerin, noch mehr Jahre im Job der Bundestrainerin inzwischen. Millionen Kilometer, Hunderte Turniere, sie hat eigentlich alles gesehen, was es zu sehen gibt. Doch am späten Sonntagnachmittag, beim Finale des Stuttgarter Porsche Grand Prix mit ihrer Nationalspielerin Laura Siegemund, war Rittner dann doch noch einmal fassungslose Augenzeugin eines zuvor „nicht erlebten Dramas“, eines verrückten Centre Court-Thrillers.  

Was für eine denkwürdige, emotionsgeladene Geschichte war das, die Rittner da mit 4500 Zuschauern in der Arena erlebte, die Geschichte eines unwahrscheinlichen Pokal-Coups von Lokalmatadorin und Favoritenschreck Siegemund, die Geschichte einer instinktlosen, unsensiblen Schiedsrichterentscheidung in der Hitze dieses Finalduells gegen Siegemund. Aber eben auch die Geschichte einer mentalen Bravourleistung der spätberufenen Schwäbin, die einen bitteren Punktabzug wegen Zeitverzögerung auf der Matchzielgeraden mit stählernen Nerven wegsteckte und sich schließlich mit ihrem 6:1, 2:6, 7:6 (7:5)-Triumph gegen die Französin Kristina Mladenovic auf den Tennisthron in der Heimat setzte.

„Ich fühle mich, als würde ich über der Erde schweben“, sagte Siegemund nach dem Happy-End mit Freudentränen in den Augen, „diesen Tag werde ich nie vergessen. Jetzt steigt die Party des Jahres.“ 107.000 Euro, den größten Preisscheck ihrer Karriere, nahm sie mit an diesem letzten April-Sonntag 2017, und ein knallrotes Cabrio des Turniersponsors gab es als Belohnung obendrauf. Gewohnt pointiert erklärte Siegemund das Geheimnis des Erfolgs: „Wenn mir das Wasser bis zum Hals stand, habe ich immer eine Schippe draufgelegt.“

Bei Rittner, der Bundestrainerin, war der Ärger über ein skandalöses Verdikt der Unparteiischen Mariana Alves gegen Siegemund derweil noch längst nicht verraucht: „So eine Entscheidung in so einem Moment habe ich noch nie erlebt. Das kann man nicht machen, das geht einfach nicht“, sagte die Fed Cup-Kapitänin. Um dann im nächsten Moment Siegemunds Mumm und unbeugsame Moral in höchsten Tönen zu loben: „Wie sie diesen Nackenschlag hingenommen hat, da kann ich nur den Hut vor ziehen.“

Schiedsrichterentscheidung führt zu heftigen Pfeifkonzerten

Beim Stand von 5:4 und 15:30 im dritten Satz hatte die umstrittene Portugiesin plötzlich Siegemund einen Punktabzug aufgebrummt, weil sie vermeintlich außerhalb des Zeitlimits bis zum nächsten Aufschlag geblieben war. Allerdings haben Schiedsrichter bei diesen Verwarnungen und Strafen einen großen Ermessensspielraum, der wird normalerweise auch tolerant genutzt, vor allem in Entscheidungssätzen, am Ende langer, auszehrender Matches.

Heftige Pfeifkonzerte, schrille, laute Buh-Rufe – der Unmut in der Porsche-Arena drohte überzukochen, ausgerechnet in diesem Finale zum 40. Turnier-Geburtstag. Doch Siegemund, die nach dem Eklat schnell zwei Spiele zum 5:6 verlor, drehte die Stimmung mit ihrem unwiderstehlichen Schlußspurt um, auch noch einmal im Tiebreak, in dem sie schon 2:4 zurücklag. Es war auch der große, mitreißende Höhepunkt einer Woche, in der die 29-jährige sowieso wieder mit irritierender Selbstverständlichkeit die Hauptrolle auf der Heimatbühne eingenommen hatte.

Im letzten Jahr hatte sie drei Top Ten-Spielerinnen zum Finaleinzug geschlagen, dann aber das deutsche Überraschungs-Endspiel gegen Angelique Kerber verloren. Nun räumte sie wieder drei Kolleginnen aus dem absoluten Eliterevier aus dem Weg, die Weltranglisten-Neunte Swetlana Kuznetsowa, die Weltranglisten-Dritte Karolina Pliskova und die Weltranglisten-Fünfte Simona Halep. Und obwohl sie schon vor dem rauschenden Finale mehr als neun Stunden auf dem Centre Court verbracht hatte, ging ihr nicht die Luft aus in dem 150-Minuten-Krimi gegen Mladenovic. „Sie hat Kräfte mobilisiert, die eigentlich gar nicht da waren“, sagte Turnierchef Markus Günthardt, „das war ein Match, ein Sieg, über den man noch lange sprechen wird.“.  

Siegemund, die studierte Psychologin mit dem etwas anderen, dem kreativen und unberechenbaren Spiel, könnte sich mit dem noch kräftigeren Rückenwind aus Stuttgart nun auch noch näher der absoluten Weltspitze nähern. Die gebürtige Filderstädterin ist eine ausgebuffte Matchplayerin, eine Strategin, mit der die Konkurrenz nur schwer zurechtkommt, einfach, weil sie auf der Höhe ihrer Kunst und Klasse nicht das weitverbreitete, eindimensionale Powertennis spielt. Sondern mit Stopps, Lobs und Schnittbällen arbeitet, auch immer wieder ans Netz vorprescht, wenn sich die Chance bietet.

Spielt Siegemund gut, ist das ein echtes Tennis-Erlebnis, ein Fall für die Romantiker dieses Sports zudem. „Sie nimmt die Zuschauer auf eine regelrechte Abenteuer-Tour mit“, sagt Rittner über die Nummer 2 der internen deutschen Tennis-Hackordnung. Nach dem gefühlsbeladenen Sieg rückt Siegemund jetzt wieder unter die Top 30 vor.

Siegemund, einst Siegerin bei der Jugend-Weltmeisterschaft in Florida und als neue Steffi Graf gehandelt zu Anfang des Jahrhunderts, wirkte dieser Tage auch wie der Gegenentwurf zur deutschen Nummer eins, zu Kerber. Und zwar nicht nur, weil sie – anders als Kerber – gegen die formstarke Aufsteigerin Mladenovic in Stuttgart gewann. Siegemund hat gerade die richtige Körpersprache, den richtigen Punch, die Ausstrahlung, die es für große Siege braucht. Früh projizierte alle Welt massive Hoffnungen auf das Kind, die Teenagerin aus dem Schwabenland. Aber erst nun, als reife Wettkämpferin, wirkt sie eigentlich bereit für die Volltreffer auf dem Centre Court. Und zwar nicht nur in der Wohlfühloase Stuttgart: „Ich glaube, dass ich das Beste noch vor mir habe.“ Das Beste – es kann noch sehr viel sein bei Siegemund.