Nachbarn haben Kerzen und Teddybären vor das Mehrfamilienhaus in Aldingen im Kreis Tuttlingen gelegt, in dem das verwahrloste Kleinkind tot aufgefunden worden war. Foto: dapd

Jugendamt Tuttlingen: Mitarbeiterinnen konnten keine Gefährdung des Kindeswohls erkennen.

Tuttlingen - Bei ihnen sei die Welt noch in Ordnung, hätten wohl viele der rund 7600 Einwohner von Aldingen bisher gesagt. Die Gemeinde am Fuß der Schwäbischen Alb ist schuldenfrei, verfügt über eine gute Infrastruktur und ausreichend Kindergärten, und in zahlreichen Vereinen findet jeder, der will, Möglichkeiten für seine Freizeitgestaltung. Doch seit Sonntag befindet sich Aldingen in Schockstarre. An diesem Tag starb die zweijährige Maja an einem „Herz-Kreislauf-Versagen bei starker Auszehrung und Flüssigkeitsmangel“. So steht es im Obduktionsbericht. Das weiße Haus, in dem sich die Tragödie ereignet hat, steht mitten im Ort. Ein schmucker Bau, erst wenige Jahre alt, wie die umliegenden Häuser auch. Im Garten stehen einige Spielgeräte für Kinder.

Landrat Stefan Bär, Jugendamtsleiter Oliver Butsch und Aldingens Bürgermeister Reinhard Lindner bekommen am Dienstag immer wieder dieselbe Frage zu hören: wie es zu dem Tod der Zweijährigen kommen konnte. Und sie geben immer wieder dieselbe Antwort. Alles, was aus Sicht der Behörden richtig war, sei getan worden.

Das kleine Mädchen starb verhungert, ausgetrocknet, verwahrlost. Die 24-jährige Mutter hatte ihre drei Kinder – zwei, drei und neun Jahre alt – am Samstagabend alleine gelassen, bei ihrer Rückkehr am Sonntagmittag fand sie ihre Tochter leblos. Sie verständigte Angehörige, die den Rettungsdienst informierten. Doch der Notarzt konnte nur noch den Tod des Mädchens feststellen – und dass die Wohnung der 24-Jährigen verwahrlost war.

Keine „Anzeichen einer Kindeswohlgefährdung“ vorgefunden

Wenn es Hinweise aus der Nachbarschaft gegeben hätte, wäre man sofort hingefahren, sagt Jugendamtsleiter Oliver Butsch. So wie vor zwei Jahren, als eine Nachbarin am damaligen Wohnort Trossingen meldete, dass die Mutter sich zu wenig um die kurz zuvor geborene Maja kümmere. Seinerzeit habe man die Frau sofort besucht. Aber auch bei zwei weiteren unangekündigten Hausbesuchen hätten die Mitarbeiter des Jugendamts keine „Anzeichen einer Kindeswohlgefährdung“ vorgefunden. „Die Kinder waren sauber, und es gab keine Anzeichen einer Verwahrlosung. Die Eltern machten einen guten und ausgeglichenen Eindruck“, so Butsch. Das hätten auch die Hebamme und die Ärztin der Kinder bestätigt. Zudem sei der Familie Hilfe angeboten worden. Seitdem habe es mehrere Gespräche zwischen der Mutter und Mitarbeitern des Jugendamts gegeben. Zuletzt hätten am 21. März zwei Mitarbeiterinnen die Frau besucht – auch da habe es „keinerlei Anzeichen einer etwaigen Kindeswohlgefährdung“ gegeben.

Akuten Handlungsbedarf sahen die Behörden auch nicht, als ihnen der Leiter der Grundschule Aldingen im April mitteilte, dass der neunjährige Sohn jetzt an seiner Schule angemeldet sei, von bisher zwölf Schultagen aber nur drei wahrgenommen habe. Erst wenige Wochen zuvor war der Neunjährige wieder zu seiner Mutter gezogen – eine Zeit lang hatte er bei den Pflegeeltern seiner Mutter im Nachbarort gelebt und dort die Schule besucht. Das Jugendamt vereinbarte mit der Mutter ein Gespräch für den 2. Mai, diese erschien aber nicht. Darauf wurde ein Termin für den 15. Mai ausgemacht, den sie telefonisch absagte – mit der Begründung, sie sei krank. Als nächster Termin wurde der 30. Mai festgelegt.

„Verwahrlosung oder eine andere akute Gefährdung der Kinder war nicht feststellbar“

Reichte es aus, dass der Pflegevater der Mutter und die Großeltern väterlicherseits regelmäßigen Kontakt zu den Kindern hatten? Oder hätten die Behörden der Frau, die mit 15 Jahren ihr erstes Kind bekam und sechs Jahre später innerhalb von einem Jahr zwei weitere, mehr Unterstützung zukommen lassen müssen – besonders, nachdem sich ihr Lebensgefährte von ihr getrennt hatte. Bei dem Gespräch am 21. März war es um dieses Thema gegangen. Jugendamtsleiter und Landrat verteidigen sich. „Wir haben festgestellt, dass die Familie in einer schwierigen Situation, die Mutter am Rande ihrer Möglichkeiten war“, sagte Bär. „Aber eine Verwahrlosung oder eine andere akute Gefährdung der Kinder war nicht feststellbar.“ Allein im vergangenen Jahr seien im Kreis Tuttlingen 130 Kinder aus ihren Familien herausgenommen worden, weil das Kindswohl in Gefahr war, sagen sie.

Ungeklärt ist auch ein zweiter Kindstod in Baden-Württemberg. In Lichtenau (Kreis Rastatt) hatte ein Vater am Pfingstwochenende seine 18 Monate alte Tochter erstochen. Insgesamt 146 Kinder unter 14 Jahren starben 2011, weil sich niemand genug um sie kümmerte oder weil sie direkter Gewalt ausgesetzt waren, sagte der Chef des Bundeskriminalamts, Jörg Ziercke, am Dienstag. Die Hälfte von ihnen kamen in ihrer Familie zu Tode. Weil zu oft weggeschaut werde.