Ungläubiges Staunen über den Machtverlust: die grüne Bundestagsabgeordnete Kerstin Andreae am Sonntag vor dem Freiburger Rathaus. In das wird nach der Niederlage des grünen Langzeit-Oberbürgermeisters Dieter Salomon der parteilose Martin Horn einziehen. Foto: dpa

Krach in der Koalition mit der CDU, Wahldebakel für den Vorzeige-Grünen Salomon – wie tief stecken die baden-württembergischen Grünen in der Krise? StN-Chefredakteur Christoph Reisinger lotet es in diesem Kommentar aus.

Stuttgart. - Die Macht verschleißt nur den, der sie nicht hat. Das war einer der Lieblingssprüche Giulio Andreottis. Und wer hätte das besser einschätzen können als der Machtmensch und siebenfache italienische Regierungschef? Die Lage der Grünen in Baden-Württemberg wirft indes die Frage auf: Gilt das mit der Macht auch für sie? Nach der Abwahl des Freiburger Oberbürgermeisters Dieter Salomon?

Folgt dem Kretschmann-Hoch ein Sturmtief?

An Stimmen fehlt es jedenfalls nicht, die ein Tief ausmachen wollen, das dem Kretschmann-Hoch der im Südwesten so erfolgsverwöhnten Partei folgt. Salomon war schließlich einer, mit dessen Namen sich dieses Hoch verband. Plötzlich wirkt die grüne Dominanz im Lande angreifbar.

Der Zustand des Regierungsbündnisses mit der CDU trägt dazu bei. In dessen Gefüge haben sich zuletzt Risse gezeigt: Der Krach wegen des Scheiterns der Wahlrechtsreform zählt dazu. Ebenso das laute Träumen einiger Büchsenspanner aus der Unionsfraktion von einem Bündniswechsel hin zu SPD und FDP. Das muss man nicht über die Maßen ernst nehmen. Aber die Botschaft ist angekommen: In Teilen der Union wird schon ohne Grünen-Chef Winfried Kretschmann geplant. Vor allem ohne grüne Koalitionspartner.

Falsch wäre es indes, bei der Einschätzung des Tiefs, das sich da angeblich über den Grünen aufbaut, zu sehr auf die Koalition oder auf die Abwahl Salomons zu schauen. Denn die Stärke dieses Tiefs bemisst sich nicht zuletzt in der Stärke der politischen Konkurrenz. Und in den Alternativen, die diese hat und die die Grünen selber haben.

Mit passabler Zwischenbilanz

Um mit ihnen anzufangen: Wer Politik mit Spektakel verwechselt, der mag die Regierung Kretschmann langweilig, in ihrem Gestaltungsehrgeiz unterspannt oder zu konservativ finden. Bei nüchterner Betrachtung jedoch fällt die Zwischenbilanz so schlecht nicht aus. Erst recht im Vergleich mit anderen Bundesländern und auch mit dem grün-roten Vorgängermodell im Lande.

Das wissen die meisten Grünen. Also wissen sie auch, wie begrenzt die Alternativen zum Kretschmann-Kurs sind, wenn die Partei weiter Erfolg haben will. Es kommt nicht von ungefähr, dass der schleswig-holsteinische Schnell-Aufsteiger und Bundesvorsitzende Robert Habeck zwar die Seele der Partei intensiver streichelt als Kretschmann, aber in seinem politischen Handeln ziemlich konsequent auf Kretschmann-Kurs segelt.

Abschied von der Quasi-Staatspartei

Und die Konkurrenz? Erst wenn die Baden-Württemberg-CDU aufhört, sich so sehr und so uneins mit sich selbst zu beschäftigen, erst wenn sie das seit 2011 genährte Missverständnis abräumt, der Verlust ihrer Rolle als Quasi-Staatspartei sei ein unverschuldeter Betriebsunfall, wird sie zu alter Stärke zurückfinden. Das Potenzial dazu hat sie. Aber sie muss es erst mal in Stimmen umsetzen.

Die SPD im Land kränkelt wie die SPD im Bund. Weil sie sich auch unter Leni Breymaier den Luxus leistet, inhaltlich vieles für die Befindlichkeiten vieler Mitglieder anzubieten, aber deutlich zu wenig in den Themen, die Mehrheiten bewegen. AfD, FDP oder Linke? – Mal besser, mal schlechter im Rennen, von Mehrheiten allesamt meilenweit entfernt.

Grüne in der Krise

So haben die Grünen zwar allen Grund, über die Ursachen ihrer Krise selbstkritisch nachzudenken. Zur Furcht aber, da braue sich ein Sturm über ihnen zusammen, besteht noch kein Grund.

christoph.reisinger@stuttgarter-nachrichten.de