Der Rückbau des Daimler-Stegs in Sindelfingen hat den Altdorfer Architekten Dieter Sengler ein wenig geschmerzt. Diese Brücke ist schließlich eines von vielen Bauwerken, die der 83-Jährige ausgetüftelt hat. Schon früh war er ein Pionier im Holzbau.
Sindelfingen - Mit der Vergänglichkeit dessen, was sie einst konstruiert haben, sind auch Architekten immer mal wieder konfrontiert. Und so will Dieter Sengler mit dem politischen Beschluss, den Daimler-Steg am Sindelfinger Bahnhof zu beseitigen, auch nicht hadern. Die vor gut fünf Wochen per Kran in der Nacht demontierte Fußgängerbrücke, 1994 eingeweiht, ist, wie berichtet, dem geplanten Mobilitätspunkt im Weg. Weh tut die Demontage dem Erbauer trotzdem. Es ist ja eines seiner „Kinder“. Und gehalten hätte der Steg, sagt Sengler, noch Jahrzehnte. Anders als die Stadt behauptet, sei die Überquerung alles andere als in einem schlechten Zustand gewesen.
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Im Gegenteil. „Böblingens Baubürgermeisterin Christina Kraayvanger hätte die Brücke sofort genommen, am Stück, wenn sie nur eine Verwendung dafür gehabt hätte“, sagt Sengler über diesbezügliche Gespräche von seiner Seite. Nun gut. Jetzt ist es eh zu spät. Das 27 Jahre alte Bauwerk, eine Holz-Stahl-Glas-Konstruktion, ließe sich, einmal in seine Fraktionen demontiert, eh nicht mehr zusammenbauen. Nun hat es den Weg der stofflichen Entsorgung angetreten, wie das verwaltungstechnisch so schön heißt. „Wahrscheinlich hat man das Holz verheizt“, schätzt – und bedauert – Dieter Sengler, der im Februar 84 wird, aber ein quietschfidel gebliebener Senior ist.
Ein Pionier im Holzbau – schon an der Fachhochschule
Schon einmal hat der Mann aus Altdorf das erleben müssen. Holz aus dem Neckarsteg zwischen Stuttgart und Bad Cannstatt, 2016 abgerissen, hat den Weg der thermischen Verwertung angetreten. Sprich: ist in Flammen aufgegangen. Auch damals blutete Sengler das Herz. Er ist nach Stuttgart gefahren, hat dem Abbruchunternehmer 50 Euro in die Hand gedrückt – und ist mit einem Anhänger voller Balken wieder gen Schönbuchlichtung zurück. Was er mit dem Material getan hat? „Ich hab’s zur Gartengestaltung weiterverwendet“, schmunzelt der Architekt im (Un-)Ruhestand. In dem steckt ein Pionier des Holzbaus, der andere Werkstoffe deshalb nicht ablehnt, sondern sie bestmöglich kombinieren will. Außerdem ein Wiederverwerter und -verwender in Demut vor dem, was die Natur hat wachsen lassen. Oder der Mensch daraus geschaffen hat.
Markante Querungshilfen über Neckar, Rems und Fils
Vieles von dem, was hierzulande Fußgänger und Radler über Neckar, Fils und Rems führt, trägt Senglers architektonische und ästhetische Handschrift. Rund ein Dutzend Wasserquerungen. Der Neckarsteg in Wendlingen etwa, das Pfauhauser-Brückle in Wernau, die gläsernen Stege über Rems und Neckar in Remseck. Alles markante Brücken.
Sein Neckarsteg zwischen dem Rosensteinpark und dem Stadtbezirk Bad Cannstatt galt als Meisterleistung. Zur Bundesgartenschau 1977 gebaut, ist der 158 Meter lange, 3,80 Meter breite und 210 Tonnen schwere überdachte Holzsteg während 40 Jahren ins kollektive Fußgängergedächtnis eingezogen. Auch die Radler, die die in der Mitte „geknickte“ Brücke nutzten, liebten sie als Magistrale. „Ratatatt, ratatatt, ratatatt“ haben die Holzbohlen unter ihren Reifen gemacht. So was behält man als Radpendler im Gedächtnis.
Der Neckarsteg hatte viele Fans, aber Stuttgart 21 war stärker
Die hölzerne Neckarquerung hätte man, sagt Sengler, erhalten können, auch wenn sie mittlerweile durch eine neue Brücke ersetzt worden ist – im Zuge von Stuttgart 21 und für die Eisenbahn wie Fußgänger und Radler tauglich. Es habe Anfragen gegeben, die Holzkonstruktion in irgendeiner Form weiterzuverwenden. Aber die Bahnprojektler machten „abfallrechtliche Gründe“ dagegen geltend – vorbehandeltes Holz.
Dieter Sengler hat vieles gebaut in seinem langen Architektenleben, auch und vor allem (Wohn-)Häuser, vielfach aus Holz. Aber an den Brücken scheint sein Herz ganz besonders zu hängen, vielleicht weil sie eben im öffentlichen Raum einer öffentlichen Nutzung unterliegen, Räume sicher verbinden, Menschen zeitsparend dienen.
Um seine Person Aufhebens zu machen, das liegt dem 83-Jährigen fern
Während eines langen Treffens vor Ort am (ehemaligen) Daimlersteg über die Hanns-Martin-Schleyerstraße und während mehrerer Telefonate macht Sengler um seine Person nicht viel Aufhebens. Viel mehr als über sich erzählt er – alte, demütige Schule – über die Statiker und Ingenieure der Bauwerke, denen er nur die Form gegeben habe. Jeden einzelnen Namen, Funktion, Titel hat er parat in Akkuratesse. Und über konstruktive Momente der Mischung von Baustoffen wie Beton, Stahl, Holz und Glas kann Sengler ausführlich dozieren – in einer so anschaulichen Art, dass selbst Laien nicht das Gefühl haben, nur Bahnhof zu verstehen. Der Sache dienen, sich als Person zurücknehmen – das scheint Senglers Grundwesen zu charakterisieren. Wo andere mit Titeln hausieren, erfährt man über seinen Werdegang zunächst wenig. Erst als er seine Visitenkarte übergibt, sieht man, welche Kapazität da vor einem steht: „Prof. Dr.-Ing. Dieter Sengler, Freier Architekt“ steht unter einem Signet, das einen mittelalterlichen Dachstuhl zeigt. Fachwerkkonstruktion. Solche Jahrhunderte überdauernden Holzbauten faszinieren Sengler bis heute. Seine Doktorarbeit an der Uni Stuttgart hat er einst über drei- bis viergeschossige Wohnbauten aus Holz geschrieben zu einer Zeit, als die Landesbauordnung sie noch verboten hat. Heute sind sie „in“.
Aus dem alten Schulhaus in Altdorf ein Schmuckstück gemacht
Und so ist es gewiss kein Zufall, dass eines der Senglerschen Lieblingskinder in seiner Wahlheimatgemeinde Altdorf liegt. Dort hat er das alte Schulhaus von 1756 komplett entbeint und als neues Bürgerzentrum wiederauferstehen lassen. Ein Schmuckstück. Aber nicht das Ende der Berufung von Dieter Sengler. Er habe noch einiges in Altdorf vor, lacht er. Verraten tut er (noch) nichts.
Dieter Sengler
Geborener Hesse
Dieter Sengler ist 1938 in Kassel geboren als einer von zwei Söhnen. Sein Vater war schon Architekt.
Stipendium für Salem
Sein Abitur hat Sengler 1958 in Salem gemacht im Internat. Er, nicht aus begüterten Verhältnissen stammend, bekam ein Stipendium. „Ich war nicht unbedingt ein guter Schüler, eher ein Spätzünder“, schmunzelt Sengler – sehr gut in Physik, eher schlecht in Mathe. Sitzen geblieben ist er auch einmal.
Karriere gemacht
Das hat ihn nicht daran gehindert, Architektur zu studieren. Die Aufnahmeprüfung an der Technischen Hochschule in Stuttgart geschafft, studierte er von 1959 bis 1966 in Stuttgart und Chicago. Danach war er wissenschaftlicher Assistent und anschließend zehn Jahre lang Freiberufler.
Professur
Von 1981 bis 2003 war Sengler Professor an der Fachhochschule für Technik in Stuttgart.