Das Leiden geht weiter: 2000 bis 3000 Kinder werden noch in Mossuls Altstadt vermutet. Foto: AP

Die Schlacht um Mossul ist zu Ende, aber das Sterben geht weiter. Ein Bericht über die Apokalypse zwischen Trümmern und Massengräbern.

Mossul - Emad Tamo ist ein Greis im Körper eines Kindes. Seine Stirn ist von Falten durchzogen. Die Wangen sind hohl, die Augen versinken in den Höhlen. Ein Kind mit einem Totenkopf und einem Leib, der nur noch aus Knochen und Haut besteht. Irakische Soldaten schütten Wasser über den Jungen, um den Staub abzuwaschen. Einer schneidet ihm die verfilzten Haare. „Habibi“, Liebling, flüstert der Schiit dem Jesiden ins Ohr. Er lässt jede Strähne wie ein zärtlicher Vater durch seine Finger gleiten. Da stehen die Soldaten um das verhungernde Kind herum. Sie haben eine der härtesten Schlachten des 21. Jahrhunderts überlebt und sehen aus, als würden sie die Welt nicht mehr verstehen.

Der Arzt Marino Andolina von der deutschen Hilfsorganisation Cadus hat an diesem Tag schon zwei andere Kinder in Empfang genommen, die wie der junge Jeside eher tot als lebendig ankommen, ein arabisch-sunnitisches Mädchen, acht Jahre alt, und ein zehnjähriger Kurde. „Sind sie schmutzig und am verhungern, bedeutet das immer IS“, sagt der italienische Kinderarzt. Damit meint er, dass die Kinder aus der Altstadt von Mossul kommen. Es ist der Teil der zerstörten Millionenstadt, in dem die Terrormiliz Islamischer Staats (IS) immer noch nicht vertrieben ist.

Die Kinder krochen aus den Verstecken und ließen die Leichen ihrer Eltern zurück

Tausende, vielleicht Zehntausende Zivilisten haben sich im Schutt Gruben oder Löcher im Boden gegraben, um sich vor dem IS zu verstecken. Die Kämpfer der Terrormiliz haben vor Wochen die Türen der Häuser zugeschweißt, um die Einwohner in den Gebäuden als menschliche Schutzschilde den Bomben auszuliefern. So sollten die Luftangriffe der irakischen Armee und der Anti-IS-Koalition den Kampf gegen den IS in ein Blutbad verwandeln. Doch die Druckwellen der Detonationen hatten zur Folge, dass Wände einstürzten und einige der lebendig Eingemauerten entkommen konnten. Sie suchten in den Trümmern oder unter der Erde ein Versteck vor den Bomben und den Heckenschützen des IS.

Die Mütter und Väter verzichteten auf das Gras oder die verdorbenen Lebensmittel, die sie nachts sammelten, und das Wasser, das aus lecken Leitungen tropfte. Sie gaben ihren Kindern alles Ess- oder Trinkbare. Als in der ersten Juliwoche die IS-Kämpfer aus weiten Teilen der Altstadt verschwanden und die Luftangriffe auf die fast besiegte Miliz deutlich abnahmen, krochen die Kinder aus den Verstecken und ließen die Leichen ihrer verdursteten und verhungerten Eltern zurück.

Das Leiden der Kinder Mossuls ist noch lange nicht vorbei

Nachdem die irakischen Soldaten Emad Tamo vom Dreck befreit haben, tragen sie ihn vorsichtig in eine Garage. Sie dient Cadus als Feldlazarett. Anfang Juli war die Front hier nur eineinhalb Kilometer entfernt. Der Kinderarzt schätzt den geschrumpften Leib des Kindes auf sieben. Der Junge sagt dem Übersetzer mit dünner Stimme, dass er 15 sei. Kein Licht, keine Nahrung, kaum Flüssigkeit über Monate, das bringt den menschlichen Körper in einen Zustand, der nicht mehr durch das biologische Alter bestimmt ist, sagt er. Der Arzt legt eine Infusion, damit der ausgetrocknete Körper Flüssigkeit bekommt.

Die gute Nachricht sei, dass ein Jeside die vom IS beherrschten Gebiete lebend verlassen konnte, sagt er. Der IS oder Daesh, wie die Iraker die Dschihadisten nennen, erklärte die religiöse Minderheit zu Teufeln, rottete sie aus, wo immer es ging. Das Auftauchen des jesidischen Kindes Tage nach der offiziellen Befreiung der Stadt durch die irakische Armee enthält für den Kinderarzt auch eine schlechte Nachricht: Das Leiden der Kinder Mossuls ist noch lange nicht vorbei. Der junge Jeside konnte nur gerettet werden, weil er irakischen Soldaten in die Arme gelaufen ist, denn obwohl die irakische Regierung den Sieg verkündet hat, hält der IS immer noch Teile der Altstadt unter Kontrolle.

Bagger schieben die Toten von der Straße in Bombenkrater

Wie viele Kinder in den letzten umkämpften Vierteln ohne lebende Verwandte noch in Verstecken hausen, kann niemand sagen. 2000 bis 3000 Kinder brauchen im Sperrgebiet dringend Hilfe, um überleben zu können, schätzt der Arzt. „Ich würde sofort gehen, aber die Armee lässt niemanden da rein“, sagt Andolina. Er streichelt dem jungen Jesiden über den Kopf. Der Junge starrt mit einem leeren und seelenlosen Blick an die Decke.

Das Leben kehrt zurück in die zerstörte Stadt. Wo noch vor wenigen Tagen geschossen und gestorben wurde, öffnen die ersten Läden. Auf den Auslagen liegen Wäsche, Schuhe, Toilettenpapier, oder Rasierschaum, der besonders gefragt ist in der Zeit nach dem IS. Aber das Leben macht in Mossul bescheidene Fortschritte. Je näher man der immer noch umkämpften Altstadt kommt, desto größer ist die Stille und Menschenleere. Ein organischer Gestank hängt über der Altstadt. Müll, verendete Tiere und die Leichen der Menschen, die hier gelebt haben. Bagger versperren in manchen Straßen den Weg. Es heißt, sie würden die Toten von der Straße in die Bombenkrater schieben – dann ein Hub Schutt in das Loch, und das Massengrab ist fertig.

„Wir müssen mit den Bedingungen umgehen, die wir vorfinden“, sagt der Mediziner

Stefan Jarosch steuert den weißen Jeep der Organisation Cadus um die metertiefen Krater herum. Fliegerbomben der Alliierten haben sie in den Boden gesprengt und die Gebäude darüber pulverisiert. Jarosch kann zu jedem Häuserblock eine Geschichte erzählen. Hier ist der verrückte Mann auf die Soldaten zugelaufen, so ausgetrocknet, dass er seinen Verstand verloren hat. Erschossen, weil die Iraker ihn für einen Selbstmordattentäter hielten. Und da war das Haus, in dem sich eine Familie vor dem IS versteckt hat. Die Helfer nahmen die Halbverhungerten huckepack unter dem Beschuss der Heckenschützen. Jarosch fährt einen neuen Arzt aus Deutschland durch das Revier. Der Berliner Notfallmediziner wird nach vier Wochen in Mossul mit seinem Team bald aufbrechen, während der Mainzer Arzt Gerhard Trabert für die nächsten zehn Tage das Lazarett in Mossul leitet.

Jarosch und seine Helfer bleiben dem IS auf den Fersen. Sie folgen der irakischen Armee in die Stadt Tal Afar westlich von Mossul. Dort beginnt die nächste Operation gegen die Dschihadisten. Der Berliner Arzt steuert die zweite Feldklinik von Cadus in der Altstadt an. Die Deutschen flicken dort mit den Ärzten des irakischen Militärs Zivilisten, Soldaten und IS-Kämpfer zusammen, bevor die Armee die Verwundeten in ein ordentliches Krankenhaus evakuiert. Cadus habe sich überlegt, die Zusammenarbeit mit der irakischen Armee zu beenden, sagt Jarosch. Er erzählt, wie er einen IS-Kämpfer behandeln wollte, dieser aber von den Soldaten von der Liege geschleppt worden ist. „Sie verschwanden mit ihm hinter dem Haus. Dann hörte ich zwei Schüsse. Die Soldaten kamen ohne den Mann zurück“, sagt er. Am Ende habe Cadus entschieden zu bleiben, weil der Protest gegen die Hinrichtung des IS-Kämpfers aus Sicht der Helfer am Ende weniger wog, als das Recht der Zivilisten zu überleben, sagt Jarosch. „Wir müssen mit den Bedingungen umgehen, die wir vorfinden“, sagt er. Es klingt, als wolle er sagen, dass es im Krieg nie Schwarz oder Weiß gibt, nur ein kaum ertragbares Grau.

Im Zweifel müssen die Deutschen und die Iraker darum streiten, wer länger leben darf

Jarosch tritt vor dem Feldlazarett in der Altstadt auf die Bremse. Irakische Soldaten tragen einen Verwundeten in einer Decke zum Wagen. Aus dem Tuch tropft Blut auf die Straße. Der einzige Raum, in dem in der Altstadt von Mossul Leben gerettet wird, ist so groß wie ein Ladengeschäft. Das Lazarett war vor der Schlacht eine Metzgerei. An der Wand hängen noch die Fleischerhaken, an denen früher Rinderhälften hingen. Der Militärarzt Ahmad Hasham und sein Kollege Fuad Jassem von der 9. Division der irakischen Armee ruhen sich auf Klappstühlen aus, nachdem der Verwundete abtransportiert ist. Wer ihnen zuhört, hat nicht das Gefühl, dass die Schlacht um Mossul zu Ende ist. Von Westen her würden IS-Kämpfer wieder in die Stadt eindringen, sagt Hasham. „300 Meter von hier beginnt die Front“, sagt er.

Verwundete IS-Kämpfer würden auch erstversorgt und dann wieder der Armee ausgehändigt, sagt er. Was danach mit ihnen geschieht? „Das ist nicht unsere Sache“, sagt sein Kollege Jassem. Ohnehin sei es nicht einfach, die IS-Kämpfer von den Zivilisten der Stadt zu trennen. „Wir haben wenig Vertrauen in Zivilisten“, sagt er. Kämen sie in das Feldlazarett, hätten die Ärzte Angst, dass sie Dschihadisten seien. „Wir haben Sanitäter verloren, weil ein angeblicher Zivilist einen Sprenggürtel gezündet hat“, sagt Major Jassem.

Stefan Jarosch drängt zum Aufbruch. Als er wieder im Jeep sitzt, erzählt er, dass die Zusammenarbeit reich an Spannungen sei. Die Ärzte und Sanitäter der irakischen Armee hätten den klaren Auftrag, ihre eigenen Soldaten wieder kampffähig zu machen. „Die Behandlung von Soldaten geht für die Iraker vor die Rettung von Zivilisten“, sagt Jarosch. Nicht einmal eine Handvoll Liegen stehen im einzigen Feldlazarett im Kampfgebiet zur Verfügung. Im Zweifel müssen die Deutschen und die Iraker darum streiten, wer länger leben darf.

Die Kinder essen nichts mehr – das ist der posttraumatische Stress

Als der Jeep wieder vor der Garage außerhalb der Altstadt hält, die Cadus als Stützpunkt dient, ist die Schlange der Patienten lang. Stefan Jarosch und sein Nachfolger Gerhard Trabert haben keine Zeit, erst mal anzukommen. Frauen in schwarzen Schleiern halten den deutschen Ärzten ihre hohlwangigen Kinder hin. Trabert stellt bei allen Kindern Zeichen von Unterernährung fest. Die Kinder essen nichts mehr, das sei der posttraumatische Stress, sagt er. Über die irakische Armee oder die gefürchtete Schiitenmiliz Hashd-al-Shaabi verliert niemand ein böses Wort. „Sie sind nicht so wie der IS uns erzählt hat. Sie helfen uns“, sagt der 18-jährige Ahmed Rakan. Weder er noch irgendjemand in seiner Familie habe jemals Sympathie für die Dschihadisten gehabt. „Das sind Monster“, sagt er. Monster, die aus Ramadi oder Tikrit kämen, aber nicht aus Mossul, meint er.

Wenig später wird sich zeigen, dass Ahmed Rakan unrecht hat. Irakische Soldaten tragen einen jungen Mann in das Feldlazarett. Er stöhnt vor Schmerzen, am linken Arm trägt er einen schmutzigen Verband. Aufregung breitet sich aus, als sich herumspricht, dass der Mann ein IS-Kämpfer ist. Da liegt er nun auf einer Liege, der Gotteskrieger, und lässt sich von Ungläubigen behandeln. Jarosch und seine Helfer spritzen dem Dschihadisten ein Schmerzmittel, bevor sie den Verband wechseln. Einige Stunden später wird klar, warum der IS-Kämpfer noch am Leben ist. Die Iraker erzählen, dass er der Neffe des Sicherheitschefs der Dschihadisten sei und Fragen beantworten solle. Er stamme aus einer Mossuler Familie, die sich ganz dem IS verschrieben habe.

Der junge Mann ist betäubt von Tramadol. Das Schmerzmittel löst die Zunge des Kämpfers. Abdulrahman al-Hadidi heiße er und 25 Jahre sei er alt. Vor eineinhalb Jahren sei er IS-Kämpfer geworden, weil der Onkel es so gewollt habe, sagt er. „Hätte ich gewusst, was aus Mossul wird, hätte ich mich geweigert, zum IS zu gehen. Aber jetzt ist es zu spät“, sagt er. Es ist unklar, ob er sich selbst damit meint oder die Stadt, die in Trümmern liegt.