Nach dem bewaffneten Aufstand von Jewgeni Prigoschin und seiner Söldner leben die Menschen in Moskau ihren gewohnten Alltag aus Ignoranz und Anpassung. Der Kreml tut geschäftig – und Präsident Wladimir Putin zeigt sich ungewohnt volksnah.
Die Menschen zücken ihre Mobiltelefone, sie rufen, jeder so laut er kann. Auf die wummernde Musik zu den bunten Wasserspielen im Springbrunnen nebenan achtet niemand sonderlich. Alle wollen nur ihn sehen, ihn anfassen: ihren starken Mann, ihren Führer. „Leader“, nennen viele Russinnen und Russen ihren Präsidenten. „Mach ein Bild, Mama“, schreit eine Jugendliche. „Mach doch.“
Die „Mama“ macht. Und Russlands Staats-TV-Nation hat ihr Bild, wie Wladimir Putin eine Jugendliche auf die Wange küsst. „Du bist toll, Fatima, solchen prächtigen Nachwuchs braucht unser Land“, kommentieren die Nutzer die Aktion in den sozialen Netzwerken. „Fatima“ erzählt dem Reporter vom Staatsfernsehen derweil, wie sie sieben Stunden lang in Derbent, in der russischen Republik Dagestan, wohin der Präsident kurzfristig aufgebrochen war, gewartet hat. „Nur auf ein Foto mit ihm. Das ist so unglaublich.“
Putin, der Liebling der Nation, unterstützt vom Volk, das ihm zujubelt und ihn feiert. War da was? Risse im System? Gesichtsverlust? Der Kreml tut in den Tagen nach der Kurzzeit-Revolte von Jewgeni Prigoschin alles, um die Schwäche des Präsidenten in Stärke umzumünzen. Seit vergangenem Samstag, als der Wagner-Chef mit seinen Panzern und Tausenden von Kämpfern das Zentrum der südrussischen Stadt Rostow am Don, an der Grenze zur Ukraine, besetzte und das „Mistvieh“ Sergej Schojgu, wie er den Verteidigungsminister seit Monaten beschimpft, herausforderte, ist Putin täglich auf Sendung. Er hält Reden, die als „schicksalsbestimmend“ angekündigt werden, in denen er aber in nur fünf Minuten das zusammenfasst, was er bereits gesagt hat, als der Aufstand noch im vollen Gange war. Er dankt Soldaten und dem „ganzen Volk in Einheit“, einen „De-Facto-Bürgerkrieg“ gestoppt zu haben. Dass in den bangen Samstagsstunden niemand für Putin öffentlich Partei ergriffen hatte, spielt keine Rolle. Der Kremlchef lässt sich in den Nordkaukasus fliegen und im Menschenbad filmen, mag er auch sonst Reporter und alle, die ihn begleiten, eine Woche in Quarantäne schicken. Er zeigt sich danach auf einem Forum in Moskau, wo er ein Männchen in Rot malt und ihm alle applaudieren. Er trifft sich mit dem Sicherheitsrat, er redet, er weist an, er hüstelt.
Das Staatsfernsehen ist stets dabei. Es soll die Gewissheit her: Der Präsident habe alles im Griff. Das funktioniert schnell. In den Tagen nach dem Aufstand geht das Leben in der Hauptstadt seinen empathielosen Gang, wie seit Kriegsbeginn. Die Menschen nehmen die Nachrichten als Nachrichten hin und gewöhnen sich nach und nach an alles. Manche stöhnen: „Ich bin einfach nur müde, ich will das alles nicht mehr hören, nicht mehr sehen. Es betrifft mich nicht.“ Zurück bleibt oft die Verwunderung: „Aber warum mag uns die Welt denn nicht? Was haben wir den Leuten getan?“
Im Moskauer Gorki-Park, gegenüber dem Verteidigungsministerium, sind Familien unterwegs, ein paar Jugendliche rasen mit ihren orangefarbenen E-Rollern über die breiten Wege. Die Karussells drehen ihre Runden, es gibt Eis und Mais. Eine sommerliche Brise weht von der Moskwa her. „Wir leben einfach im Moment, genießen das Leben“, sagt Jekaterina, die auf einer Bank sitzt, einen Kaffeebecher in der Hand. Hochzeitsfotografin ist sie, hat am Tag, als Prigoschin die Waffen gegen die eigene Seite richtete, in einem Hotel ein Brautpaar und seine Gäste fotografiert. In Rostow schrieb sich derweil ihre Tante die Finger wund, „sie wollte uns in Moskau beruhigen, und ich hatte eh keine Zeit, mich mit all der Politik zu beschäftigen, ist nicht meins, ich verstehe einfach nichts davon“. Es sei nicht an ihr „zu urteilen, wer Recht“ habe. „Wir müssen immer aufseiten unseres Präsidenten sein. Einfach, weil wir Russen sind und Putin unser Präsident ist.“
„Die paar Panzer!“
Jekaterina ist 25 Jahre alt, einen anderen Menschen an der Spitze des Staates kennt sie nicht, auch wenn zwischendurch Dmitri Medwedew den Posten innehatte, im Hintergrund blieb Putin stets der, der Stabilität versprach. Wie fragil aber sein auf „Teile und Herrsche“ gebautes System ist, führte Prigoschin in nur wenigen Stunden vor. „Wir sind nur Beobachter der Situation, wir sind keine Akteure“, sagt Jekaterina. „Die Situation am Samstag“ habe sich für sie so dargestellt: „Ein Kerl zieht los, irgendwas läuft nicht so. Der Kerl scheißt drauf und zieht wieder ab.“ Gefahren für ihr Land? Ihr Leben gar? „Na ja, die paar Panzer! Was haben die mit mir zu tun?“
Das System Putin hat das Volk soweit demobilisiert, dass viele Menschen aus der Apathie nicht mehr herauskommen, nicht herauskommen wollen. „Es hat mich wirklich genervt, dass ich am Samstag aus dem Puschkin-Museum hinausgebeten wurde. Was sollte das? Rostow ist weit weg. Wir wollen in Ruhe gelassen werden“, sagt Tatjana, 48, „nur noch Großmutter“. Als die Lage in Rostow immer brenzliger geworden war, hatte der Moskauer Bürgermeister Sergej Sobjanin Museen und Parks der Stadt schließen lassen, einen arbeitsfreien Tag eingeführt. „Eine Notsituation“, hatte er gesagt und um „Verständnis“ gebeten. Für Tatjana ist das „Außergewöhnliche des Ganzen“ bis heute nicht klar, sagt sie, die Ausflugsschiffe auf der Moskwa ziehen an ihr vorbei.
Eine Stadtführerin steht mit einer Besuchergruppe am Denkmal des sowjetischen Dichters Maxim Gorki, nach dem der Park benannt ist, und liest ein Märchen von Gorki vor. Darin prahlen ein Teekessel und ein Samowar um die Wette, wollen vor der Zuckerdose zeigen, wer mehr zu sagen, mehr zu bieten hat. Am Ende platzen beide. „Sie haben verloren, jeder auf seine Weise“, sagt die Stadtführerin. Auf eine absurde Weise passt die Erzählung in die russischen Fast-Staatsstreich-Tage.
Im Fernsehen wird Prigoschin immer häufiger als geldgieriger, überdrehter, von dummen Ambitionen getriebener Mann dargestellt, der seine Kameraden belogen habe. Wer ihn erst so groß gemacht hat und über Jahre hinweg gewähren ließ, sagen die Moderatoren nicht. Denn Putin soll strahlen, soll angestrahlt werden, deshalb die Massen auf den Straßen von Derbent, der Kuss, das Händeschütteln. Der von der Realität entfremdete Präsident soll im Volk baden. Dass der Kreml hart gegen die Sympathisanten des Aufstandes vorgehen soll, dass gar der als „General Armageddon“ bekannte Sergej Surowikin, der Prigoschin in der Ukraine stets unterstützt hat, in Haft sein soll, solche Gerüchte sind offiziell kein Thema. Es gilt, Normalität vorzugaukeln.
„Warum sollen wir denn in Panik verfallen? Das Leben geht weiter, auch im Krieg“, sagt der 66-jährige Wjatscheslaw im Gorki-Park. Seine Frau Sinaida fügt hinzu: „ Schade nur, dass Prigoschin sich absetzen musste, mit ihm hatte Russland eine tolle, starke Schlagtruppe. Siegen aber werden wir trotzdem!“ Im Gorki-Park beginnt es zu nieseln.