Irlands Außenminister Flanagan (li.) mit seinem italienischen Amtskollegen Gentiloni bei dessen Besuch in Dublin Mitte Juli. Foto: dpa

Die Regierung in Dublin versucht nach dem Brexit verzweifelt, einen Sonderstatus für die Grüne Insel auszuhandeln.

Dublin - Und jetzt? Gibt es bald einen Grenzzaun durch Irland? Treten bald von Derry bis Newry Zöllner mit scharfen Hunden auf den Plan? Werden 200 derzeit unmarkierte Übergänge in Ortschaften und auf Landsträßchen durch ein Dutzend amtlicher Zollstellen ersetzt, an denen man geduldig aufs Öffnen von Schranken zu warten hätte? Müssen die 30 000 Iren und Briten, die jeden Tag die Grenze passieren, künftig Pässe bereit halten, wenn sie von einer Seite auf die andere wollen? Gerät gar der Frieden in Nordirland neu in Gefahr? Charlie Flanagan schüttelt den Kopf. „Die Realität ist doch, dass eine sogenannte harte Grenze auf einer Länge von 500 Kilometern quer über unsere Insel schlicht nicht funktionsfähig wäre. So eine Grenze wäre ein Ding der Unmöglichkeit“, sagt der Außenminister der Republik Irland.

Flanagan hält es an diesem heißen Sommertag in seinem Parlamentsbüro in Dublin, für „ausgeschlossen“, dass die „Grüne Insel“ nun physisch wieder zweigeteilt würde, wie sie es zu Zeiten der Troubles, der blutigen nordirischen Unruhen, einmal war. Droben im Grenzgebiet ist man sich da nicht so sicher. Britanniens Beschluss, aus der EU auszutreten, hat dort viel Unruhe ausgelöst. Immerhin geht es um die einzige Landgrenze des Vereinigten Königreichs mit der Außenwelt, die nach vollzogenem Brexit zu einer Außengrenze der Europäischen Union würde. Und diese Grenze ist zugleich die innerirische Grenze. Sie hat, von London 1921 eigenwillig gezogen, schon früher für jede Menge Probleme gesorgt. Als älteste Kolonie Großbritanniens war Irland ja in vergangenen Jahrhunderten einmal fester Bestandteil des britischen Empires. Später, als die Iren für 26 ihrer 32 Grafschaften die nationale Unabhängigkeit ertrotzten, blieb freier Zugang vom einen Staat in den andern durch die vertragliche Vereinbarung einer „Gemeinsamen Reisezone“ (Common Travel Area) garantiert.

Schmuggler gab es natürlich immer, und zur Zeit der Troubles droben in Nordirland, in den von London einbehaltenen „Six Counties“, spielte die Grenze eine Rolle als Sicherheits-Bollwerk gegenüber dem Süden. Pässe brauchte man nicht. Nur den Kofferraum musste man öffnen, wenn einem britische Soldaten das Gewehr vor die Nase hielten. Nach der Befriedung Nordirlands durch den Karfreitagsvertrag von 1998 verschwanden die Grenzposten im Innern Irlands dann nach und nach. Als Großbritannien und die Republik Irland 1973 gleichzeitig der EWG beitraten, blieben beide Nationen einander durch die simultane Mitgliedschaft eng verbunden. Beide wahrten ihre „Gemeinsame Reisezone“ und hielten sich gleichzeitig aus Schengen heraus.

Schmuggler hat es immer gegeben

Nun aber, nach dem Brexit-Beschluss, muss Irland befürchten, dass das Vereinigte Königreich bald nicht mehr dem Gemeinsamen Markt angehören wird – in welchem Falle die EU eine Tarifgrenze mitten durch Irland braucht. Umgekehrt müssten die Briten sich post Brexit gegen Irland abschotten, um Zuwanderern aus der EU oder über die EU den Zugang zum eigenen Territorium zu verwehren. Andernfalls würde die „grüne Grenze“ zur 500 Kilometer weit offen stehenden Hintertür nach Großbritannien werden. Dann wäre alle versprochene Migrationskontrolle an den Vordereingängen von Dover oder Heathrow bedeutungslos.

Frage an den Minister: Wird damit eine „harte Grenze“ nicht unumgänglich? Gewiss, räumt Charlie Flanagan ein, sehe man sich in Dublin jetzt „enormen Herausforderungen“ gegenüber. Die besondere Sorge des irischen Außenministers gilt Nordirland, wo übrigens beim Referendum, wie drüben in Schottland, eine Mehrheit für Verbleib in der EU stimmte. Der Friede in Nordirland, meint der Minister, sei schließlich einer der größten Erfolge der EU in den letzten Jahrzehnten gewesen. Die in vielfacher Weise helfende Hand Europas hätten auch die meisten Nordiren zu schätzen gewusst. Kann der Brexit für den noch immer wackeligen nordirischen Frieden so zur ernsten Gefahr werden? „Die Folgen sind beträchtlich“, formuliert es Flanagan vorsichtig. Alles Mögliche könne Nordirlands Stabilität jetzt „negativ beeinträchtigen“. Das müssten die EU-Partner Irlands ebenso klar sehen wie London: „Wir in Irland finden uns hier, in Sachen Brexit, durch Nordirland in einer einzigartigen Situation.“

Der Kern des Problems ist, dass offene Grenzen und zunehmende Kooperation zwischen dem Norden und dem Süden Irlands elementar waren für den historischen Karfreitags-Deal, den Iren und Briten vor 18 Jahren schlossen. Der „gesamtirische“ Aspekt jenes Abkommens, die Möglichkeit eines natürlichen Zusammenwachsens beider Teile Irlands, half damals, die irischen Republikaner in den Frieden einzubinden. Eine frische Abgrenzung Nordirlands gegen den Süden und die erneute Trennung der irisch-katholischen Bevölkerung beiderseits der Grenze würden dem Geist des Karfreitags-Abkommens jedenfalls diametral zuwider laufen, warnen Beobachter wie Ian McBride, King’s-College-Professor für britische und irische Geschichte. Auch den Bilateralismus, auf dem der Vertrag fußte, sieht McBride durch den britischen Rückzug aus der EU in Frage gestellt. Der Brexit, klagt auch die Dubliner Polit-Zeitschrift „Phoenix“, sei im Grunde „eine einseitige Abänderung“ der Nordirland-Verträge durch London: Noch dazu gegen den Mehrheitswillen der nordirischen Bevölkerung. Daraus könnten sich gefährliche neue Spannungen ergeben in der Provinz.

Keine Vorhaltungen für die Londoner Partner

Minister Flanagan mag den Londoner Partnern, mit denen er „eng zusammen arbeitet“, keine Vorhaltungen machen. Aber auch er sieht „potenziell äußerst schädliche Folgen des Brexit“ am Horizont. Und falls die Lage „zu heiß“ würde für Dublin? Müsste dann die irische Republik nicht ihrerseits aus der EU aussteigen, um die Gemeinsamkeit mit dem Vereinigten Königreich, die Freizügigkeit zwischen beiden Staaten und zwischen Nord und Süd in Irland zu retten? „Lassen Sie mich das ganz, ganz klar sagen“, erklärt Flanagan am Konferenztisch seines Büros, die irische Trikolore im Rücken und die Hände erhoben wie zum Schwur. „Das Resultat dieses britischen Referendums beeinträchtigt in keiner Weise die massive öffentliche Unterstützung für die weitere EU-Mitgliedschaft hier in Irland.“ Post-Brexit-Umfragen zufolge unterstützen noch immer 86 Prozent aller Iren das europäische Projekt nachdrücklich: „Und das wird sich auch nicht ändern.“ Irland wolle und werde weiter „im Herzen Europas“ verwurzelt sein.

Vorerst sitzt Dublin mit seinem Bekenntnis zur EU und seiner Forderung nach irisch-britischer Freizügigkeit ganz hübsch zwischen den Stühlen. Wie sich die irische Regierung aus dieser Lage befreien will, verrät Minister Flanagan einstweilen nicht. Spekulationen über mögliche „Sonderlösungen“ gibt es aber schon. Eine Idee besteht darin, dass Grenzkontrollen zur Absicherung der britischen Außengrenze nicht im Innern Irlands, sondern erst an den Küsten zur britischen „Hauptinsel“ vorgenommen werden. EU-Migranten, die zum Beispiel über Irland einreisten, könnten in einem solchen Fall nach Nordirland weiter ziehen, würden aber bei der Weiterreise mit Fähre oder Flugzeug nach England, Wales oder Schottland kontrolliert – und nach Bedarf gestoppt. Diese Lösung gefällt allerdings der unionistischen Regierungschefin Nordirlands, Arlene Foster, kein bisschen. Die Unionisten wollen weiter unbeschränkten Zugang zum Rest des Vereinigten Königreichs. Schließlich bildet das Königreich eine staatliche Einheit. Und eine Grenze zwischen Nordirland und Großbritannien wäre für Foster der erste Schritt zur Abkoppelung Nordirlands von England – und so zur irischen Wiedervereinigung.

Dublin bemüht sich um eine möglichst laute Stimme

Andere, radikalere Modelle gehen davon aus, dass es Nordirland und Schottland erlaubt würde, in der EU zu bleiben, während England und Wales, die für Brexit stimmten, ausscheren würden. Das ist von London bisher nicht in Betracht gezogen worden, wird aber in Schottland als Idee aktiv verfolgt. Und Dublin hält, wie Minister Flanagan bestätigt, zunehmend engen Kontakt zu den „keltischen Brüdern und Schwestern in Schottland“. „Schwierige Zeiten“ prophezeit Irlands Außenminister jedenfalls seinen Landsleuten, Nachbarn und EU-Partnern. Edinburgh sucht er als Bundesgenossin zu gewinnen, Belfast zu Kompromissen zu bewegen, London zu einer „EU-nahen“ Lösung zu drängen. Die 26 anderen EU-Staaten bittet er um Einsicht in das „einzigartige“ Verhältnis Irlands zum Vereinigten Königreich. „Mit 23 meiner 26 Amtskollegen“, sagt Flanagan, „habe ich darüber schon gesprochen.“ Auch mit dem neuen britischen Außenminister Boris Johnson hat er sich zu einer Unterredung getroffen. Was er von Johnson hält, behält er für sich.

Sein Kabinettskollege Paschal Donohoe, Dublins Minister für Ausgabenpolitik, hat Johnson einen „Scharlatan“ genannt. Es ist harte Arbeit für Charlie Flanagan, in diesem Sommer. Die deutsche Kanzlerin Angela Merkel hat den Iren bereits beschieden, dass sie nur „eine Stimme wie alle anderen“ bei der Aushandlung des künftigen Brexit-Vertrages mit London haben werden. Also müht sich Dublin um eine möglichst laute Stimme. Für die Iren steht beim Brexit viel auf dem Spiel.