Zum zweiten Mal binnen weniger Tage hat die Polizei bei einem Einsatz einen tödlichen Schuss abgegeben – diesmal in Stuttgart-Ost. Doch musste ein 18-Jähriger wirklich sterben?
Ein 18-Jähriger fügt im Streit in einer Kneipe einem Widersacher einen Schnitt am Hals zu – und stirbt kurze Zeit später bei einer Fahndung durch eine Polizeikugel. Der tödliche Vorfall am frühen Dienstagmorgen im Stuttgarter Osten sorgt nicht nur in der Bevölkerung für Aufregung. Denn nun ermittelt das Landeskriminalamt die offenbar heiklen Umstände des Polizeieinsatzes. Unserer Zeitung liegt ein Video vor, das Zweifel daran aufkommen lassen könnte, der Beamte habe in einer Notwehr- oder Nothilfesituation gehandelt. Der Zeuge will vorerst keine Veröffentlichung seines Videos, sondern damit erst einmal „den Ermittlungen helfen“.
In einem Gartengrundstück an der Talstraße im Stuttgarter Osten huschen Taschenlampenlichter über Pflanzen und Häuserfassaden. Es ist 2.04 Uhr, als ein Beamter im Lichtkegel einen Verdächtigen aufspürt.
Zahlreiche Beamte suchen zu dieser Zeit nach einem jungen Mann, der gegen 1.50 Uhr wenige Hundert Meter entfernt in einer Kneipe an der Ostendstraße eine Bluttat begangen haben soll.
Ein Streit mit Schnittwunde am Hals
Aus noch unbekannter Ursache waren zwei Männer in Streit geraten, einer 18, einer 29, beide algerische Landsleute. Dabei soll der Jüngere dem Widersacher einen Hieb gegen den Hals versetzt haben und geflüchtet sein. Zeugen glauben erst, dass dem Opfer nur eine Ohrfeige verpasst worden wäre – doch dann fließt viel Blut. Der 29-Jährige hat eine Schnittwunde erlitten.
Der Rettungsdienst versorgt den Mann vor dem Lokal. „Es handelte sich um eine schwere, letztlich aber nicht lebensgefährliche Verletzung“, sagt Polizeisprecherin Daniela Treude. Die Polizei spricht von einem „scharfen Gegenstand“ als Tatwaffe. Ob eine von der Spurensicherung gefundene „grüne Scherbe“ einer Flasche eine Rolle spielt? „Wir sind nicht unbedingt auf ein Messer festgelegt“, sagt Sprecherin Treude.
Das alles wissen eine Viertelstunde nach der Tat die Beamten nicht, die an den Tatort eilen. Das Revier Ostendstraße ist gleich in der Nähe. Das Führungs- und Lagezentrum schickt weitere Streifen los. Eine Handvoll Beamter durchstreift dabei ein Gartengrundstück am Gebäude Talstraße 7, zunächst ohne eine Spur des Verdächtigen. Ein Anwohner, der wegen Hitze bei offenem Fenster geschlafen hat, wird durch den Lärm der Martinshörner und der Rufe geweckt. Er zückt sein Handy.
Ein Hechtsprung über einen Zaun, dann ein Schuss
Um 2.04 Uhr spielt sich in dem Gartengrundstück eine verhängnisvolle Szene ab. Ein Beamter sichtet im Licht seiner Taschenlampe offenbar den Gesuchten. „Polizei! Hände hinter den Rücken“, ruft er zweimal. „Ich habe Kontakt“, ruft er seinen Kollegen zu.
Dann taucht eine Gestalt unter dem Pflanzengestrüpp auf. Und dann geht alles blitzschnell. Ein junger Mann hechtet wenige Meter vom Beamten entfernt über einen kleinen Zaun, dreht sich mit dem Rücken zum Beamten, der in dieser Sekunde ruft: „Stehenbleiben oder ich schieße!“ Da fällt auch schon ein Schuss – von welchem Beamten lässt sich durch das Video nicht sagen. Der junge Mann bricht nach wenigen Metern zusammen. Er stirbt noch am Tatort.
Ob der Schussabgabe eine falsche Einschätzung der Gefahrenlage zugrunde lag oder in einer Art Überreaktion fiel – das alles werden jetzt die Spezialisten der Abteilung 3 des Landeskriminalamts ermitteln. Aussagen und Bewertungen zu den Szenen des Videos gibt es nicht: „Das wird nun alles, wie jeder solcher Fall, akribisch aufbereitet, um es juristisch bewerten zu können“, sagt LKA-Sprecher Jürgen Glodek.
Zwischenbilanz 2025: Acht Schüsse, sechs Tote
Schüsse aus polizeilichen Dienstwaffen häufen sich. In der Region hat es binnen nicht einmal einer Woche den zweiten tödlichen Schuss gegeben. Erst am vergangenen Donnerstag starb ein 27-Jähriger in Wangen (Kreis Göppingen) durch Polizeischüsse. Er sollte wegen einer zu verbüßenden Haftstrafe festgenommen werden, soll dabei aber die Beamten mit einem Messer angegriffen haben. Die eröffneten das Feuer. Der Mann afghanischer Herkunft starb noch am Tatort.
Wird die Dienstwaffe etwa öfter gezückt? Hat der Messer-Mord in Mannheim an dem Polizeibeamten Rouven Laur am 31. Mai 2024 die Haltung der Polizei verändert? Hat Innenminister Thomas Strobl womöglich dieser Haltung mit seiner Aussage Ausdruck verliehen, als er sagte: „Wer Polizisten mit einem Messer angreift, riskiert sein Leben“? Laut Polizeistatistik hat es im vergangenen Jahr in Baden-Württemberg 13 Fälle gegeben, bei denen die Dienstwaffe gegen Personen eingesetzt wurde. Dabei wurden drei Menschen getötet, neun verletzt. In diesem Halbjahr wurde in acht Fällen auf Personen geschossen – dabei gab es sechs Tote.