Stolz, stolzer, Stanislas Wawrinka: Der Überraschungssieger der Australian Open marschiert mit der Trophäe in den Katakomben der Rod Laver Arena an den Bildern der Champions vorbei. Foto: Getty Images AsiaPac

Es ist Bewegung in die lange Zeit so festgefügte Tennis-Hierarchie gekommen: Stanislas Wawrinka (28) hält es für möglich, dass sein Beispiel die Verfolger von Rafael Nadal und Novak Djokovic beflügeln könnte.

Es ist Bewegung in die lange Zeit so festgefügte Tennis-Hierarchie gekommen: Stanislas Wawrinka (28) hält es für möglich, dass sein Beispiel die Verfolger von Rafael Nadal und Novak Djokovic beflügeln könnte.

Melbourne - Natürlich kann er nicht wissen, wie er sich in einem Jahr fühlen, was er bis dahin erlebt haben wird, aber eines ist jetzt schon klar. „Das Erste, was ich tun werde, wenn ich wieder komme“, sagt Wawrinka, „ich werde ein Foto von mir machen.“ So oft war er im Laufe seiner Karriere an den Bildern der Champions in den Katakomben der Rod Laver Arena vorbeigekommen, aber bis vor ein paar Tagen wäre er nicht in seinen kühnsten Fantasien auf die Idee gekommen, dass irgendwann auch ein Bild von ihm mit Pokal an der Wand hängen könnte.

Auch am Tag nach dem Sieg im Finale der Australian Open gegen Rafael Nadal war er immer noch nicht ganz in der Realität angekommen. Die einzigen Momente, in denen er kurz innehalten konnte, waren die Minuten allein in der Kabine beim Telefongespräch mit Frau und Tochter, aber ansonsten drehte sich das Rad der Ereignisse mit hoher Geschwindigkeit. Er feierte ein wenig mit dem Team, mehr als drei Stunden Schlaf blieben nicht übrig, bevor er wieder losmusste, zunächst zum Fototermin vor dem Bootshaus der Universität und dann noch mal in den Melbourne Park zu den letzten Interviews der aufregendsten Stunden seines Lebens.

Irgendwie kommt ihm die Geschichte immer noch vor wie eine gefährlich schöne Halluzination. Warum er jetzt in der Lage war, diesen Titel zu gewinnen und den Sturm im Finale gegen Nadal zu überstehen und nicht schon früher? „Ich habe früher nicht gedacht, dass ich das Spielniveau hätte, inzwischen verstehe ich viel besser, warum ich gewinne oder verliere. Aber nun weiß ich, dass ich bei einem Grand-Slam-Turnier jeden schlagen kann, wenn ich mein bestes Tennis spiele. Und das ändert alles.“

Die Zahl der Gratulanten war schwer zu überblicken, auch am Tag danach war er noch nicht dazugekommen, alle Glückwünsche durchzuschauen, die bei ihm gelandet waren. Einer der Ersten, die sich meldeten, war Roger Federer, völlig aus dem Häuschen, wie Wawrinka berichtete, und sehr, sehr glücklich. Federer, der im Halbfinale gegen Nadal verloren hatte, steht in der neuesten Weltrangliste nur noch auf Platz acht hinter Tomas Berdych, auch Andy Murray fiel zurück (Platz sechs). Stan Wawrinka hingegen flog auf Platz drei und ist jetzt derjenige, der die Gruppe der Verfolger auf Nadal und Novak Djokovic anführt; die stehen nach wie vor mit großem Vorsprung an der Spitze. Es ist Bewegung in die lange Zeit so festgefügte Hierarchie gekommen, und Wawrinka hält es für möglich, dass sein Beispiel die anderen beflügeln könnte. In den vergangenen acht Jahren war es einem Einzigen gelungen, die Dominanz des übermächtigen Quartetts Nadal, Djokovic, Federer und Murray bei einem der großen vier Turniere zu unterbrechen – Juan Martin Del Potro bei den US Open 2009. „Vielleicht realisieren jetzt mehr Spieler, dass es möglich ist“, meint der neue erste Mann aus der Schweiz.

Wie wird es nun für ihn weitergehen nach dem Coup, mit dem er sich selbst am meisten überraschte? Sieht er hinauf zum Gipfel, wo Nadal steht? Nein, tut er nicht. Genauso, wie er sich früher nie vorstellen konnte, einen Grand-Slam-Titel zu gewinnen, kann er sich jetzt nicht vorstellen, ganz oben zu landen. „Das ist so weit weg von mir“, sagt er, „und deshalb ist es auch kein Ziel.“

Mit den Herausforderungen im turbulenten Hier und Jetzt ist er einstweilen ausreichend beschäftigt. Montagabend machte er sich auf den Weg nach Hause, um dort in Lausanne kurz Frau und Tochter zu sehen, und danach geht es zügig weiter nach Novi Sad, wo die Schweizer am kommenden Wochenende in der ersten Runde des Daviscup gegen Serbien spielen. „Ich weiß nicht“, sagt er, „ob ich fit genug für den Daviscup sein werde, aber ich weiß, dass ich mich überwinden muss.“ So ist das, wenn man zu den Großen gehört – die Herausforderungen werden nicht kleiner.