Am Dienstag beginnt der Prozess gegen vier mutmaßliche Terroristen Foto: dpa

Drei Männer und eine Frau müssen sich von heute an vor dem Stuttgarter Oberlandesgericht verantworten. Sie sollen als führende Kräfte eine linksgerichtete türkische Terrorgruppe unterstützt haben. Auf deren Konto gehen zahlreiche Morde und Attentate.

Stuttgart - Am Begriff Gebietsleiter lässt sich zunächst nichts Anstößiges finden. Große Unternehmen kennen diese Funktion, Supermärkte oder Staubsaugervertreter. Und Terrorgruppen. So soll einer der vier türkischen Staatsbürger, die von heute an vor dem Stuttgarter Oberlandesgericht stehen, „spätestens Mitte des Jahres 2008 die Leitung des Gebiets Stuttgart übernommen“ haben. So formuliert es zumindest die Generalbundesanwaltschaft.

Unter Gebietsleitung verstehen die Ermittler in diesem Fall besonders eine Aufgabe: das Beschaffen von Geld. Der 32-jährige Stuttgarter Gebietsleiter und die Mitangeklagten, zwei 40 und 42 Jahre alte Männer sowie eine 37-jährige Frau, sollen laut Anklage als „hochrangige Parteikader“ für die türkische Revolutionäre Volksbefreiungspartei-Front (DHKP-C) tätig gewesen sein. Und das mindestens zehn Jahre lang. Zu ihren Aufgaben sollen Spenden- und Beitragssammlungen, kommerzielle Veranstaltungen und der Verkauf von Propagandamaterial gehört haben. Die Anklage lautet bei allen vier Mitgliedschaft in einer ausländischen terroristischen Vereinigung.

Die linksgerichtete Terrorgruppe DHKP-C will laut den Ermittlern den türkischen Staat mittels „bewaffneten Kampfes“ beseitigen und durch ein marxistisch-leninistisches Regime unter ihrer Führung ersetzen. Seit ihrer Gründung 1994 begeht sie Attentate, Brand- und Sprengstoffanschläge. Dafür sind wiederholt auch Selbstmordattentäter eingesetzt worden. Es hat zahlreiche Todesopfer gegeben.

Die Gruppe hat sich unter anderem zum Attentat auf die US-Botschaft in Ankara am 1. Februar 2013 bekannt. Dabei sind der Täter und ein Wachmann ums Leben gekommen. Auch Anschläge auf die Zentrale der Regierungspartei AKP, das türkische Justizministerium und die Polizeizentrale in Ankara 2013 mit mehreren Verletzten sollen auf ihr Konto gehen. Die vier Angeklagten sollen zur Auslandsorganisation der DHKP-C gehören, die in erster Linie für die Finanzierung der terroristischen Aktivitäten sowie die Beschaffung von Waffen und militärischer Ausrüstung zuständig ist. Auch die ideologische und praktische Schulung sowie die Gewinnung neuer Mitglieder gehören zu den Aufgaben.

Festgenommen worden sind die Angeklagten bereits im vergangenen Sommer. Drei von ihnen gingen den Fahndern Ende Juni ins Netz. Damals durchsuchten mehrere Landeskriminalämter, das Bundeskriminalamt und die Polizei rund 35 Wohnungen und Geschäftsräume in ganz Deutschland. Über 300 Beamte sind dafür im Einsatz gewesen. Auch in den Niederlanden, Österreich und Belgien gab es Durchsuchungen. Drei Wochen später folgte in Österreich die Festnahme des mutmaßlichen Stuttgarter Gebietsleiters.

Laut einer Sprecherin des Oberlandesgerichts haben mindestens zwei der Angeklagten Tatbezüge nach Baden-Württemberg. Deshalb wird in Stuttgart verhandelt. Die beiden anderen sollen vorwiegend für Nordrhein-Westfalen zuständig gewesen sein, aber auch zeitweise für die Niederlande und Österreich. Das Bundesamt für Verfassungsschutz geht davon aus, dass die DHKP-C in Deutschland etwa 650 Mitglieder hat. Verboten ist sie hier bereits seit 1998. Die Anschläge der Gruppe konzentrieren sich zwar auf die Türkei, jedoch gehört laut Verfassungsschützern auch ein ausgeprägtes USA-Feindbild zu den Prinzipien. Nach den Verhaftungen im vergangenen Jahr hat es auch Drohungen gegen Deutschland gegeben.

Der Staatsschutzsenat des Gerichts muss nun in den nächsten Monaten darüber befinden, ob die Vorwürfe zutreffend sind. Erwartet wird ein Mammutprozess – bisher sind 31 Verhandlungstage bis in den Januar hinein vorgesehen. Dann soll feststehen, ob der Gebietsleiter und die Mitangeklagten für lange Zeit aus dem Verkehr gezogen werden.

Die DHKP-C

Die Revolutionäre Volksbefreiungspartei-Front (DHKP-C) ist im März 1994 in Damaskus gegründet worden. Sie gilt als Nachfolgegruppierung der 1978 in der Türkei gegründeten Devrimci Sol (Revolutionäre Linke). Die Gruppe nennt sich selbst marxistisch-leninistisch. Wie viele Anhänger sie weltweit hat, ist nicht genau bekannt. Ihr Generalsekretär war seit Gründung der im August 2008 verstorbene Dursun Karatasş. Wer derzeit die Organisation führt, ist unbekannt. Die DHKP-C gilt sowohl in der Europäischen Union als auch in den USA als terroristische Vereinigung.

Ziel der Gruppe ist es, die Führung in der Türkei zu übernehmen. Der türkischen Regierung wirft sie vor, sie stehe unter „dem imperialistischen Einfluss der USA“. Dieses Ziel versucht sie, durch Attentate und Brandanschläge, teils mit schwerem militärischem Gerät, zu erreichen.

Die Gruppe nutzt Deutschland und andere europäische Länder als Rückzugsraum für ihre Führungsmitglieder. Deshalb kommt es auch hier immer wieder zu Festnahmen und Prozessen. So hat das Kammergericht in Berlin im vergangenen Jahr eine türkische Staatsangehörige wegen Mitgliedschaft in der DHKP-C zu einer Freiheitsstrafe von sechseinhalb Jahren verurteilt. Die Frau soll Europaverantwortliche der Terrorgruppe gewesen sein und in dieser Funktion Geld, Waffen und Kuriere in die Türkei geschickt haben. (jbo)