Will „das Fromme von Luther nach Stuttgart bringen“: Hans-Christoph Rademann Foto: Schneider

An diesem Samstag wird das Musikfest Stuttgart eröffnet: mit der konzertanten Aufführung einer Oper, Mozarts Frühwerk „Idomeneo“. Ein Experiment. Fernziel ist ein neuer alter, mitteldeutsch und von historischer Stilistik geprägter Stuttgarter Bach-Sound.

Stuttgart - Kleiner ist das Musikfest Stuttgart geworden, kleiner und bescheidener. Im dritten Jahr als Chef der Internationalen Bachakademie Stuttgart ist der Dirigent Hans-Christoph Rademann die Galionsfigur eines Festivals (und einer Institution) im Umbruch. Nach „Neugier“ 2013 und „Herkunft“ 2014 ist „Freundschaft“ das (sehr weite) Motto des Musikfests Stuttgart. 2016 wird es „Reichtum“ sein, und auch im nächsten Jahr wird die Veranstaltungsreihe wieder auf zehn Tage komprimiert sein. Angesichts des Programms könnte, wer wollte, auch von einer Schrumpfung sprechen – und jenen Glanz des Internationalen einfordern, der irgendwann auch einmal da gewesen ist.

Erstmals beim Musikfest: als Eröffnung eine Oper

Zwischen den Proben zum Eröffnungskonzert an diesem Samstag, bei dem – gab’s das zum Musikfest-Auftakt überhaupt schon mal? – eine Oper (konzertant) aufgeführt wird, kommt Hans-Christoph Rademann zum Interview ins Foyer der Liederhalle. Dass er erstaunlich entspannt wirkt, mag an der Kunst liegen, in die er sich gerade vertieft und die ihn, den Künstler, befeuert: Mozarts „Idomeneo“, sagt er, passe „exakt in unsere Zeit“, die Orchestrierung sei exzellent, es gebe „extrem interessante, aber fürchterlich schwere Rezitative, eine große Bandbreite im Ausdruck – und dazu noch wunderschöne Chöre“. Und überhaupt: „Mir macht das riesigen Spaß, da mal ein bisschen zu experimentieren.“

Die Gelassenheit des Akademieleiters mag auch auf der Tatsache gründen, dass der 50-Jährige genau weiß, was er will. Dass er überzeugt ist von seinem Ziel – und bereit ist, bei dessen Umsetzung Risiken einzugehen, die über eine konzertante Opernaufführung weit hinausgehen. Zurzeit, sagt Rademann, seien er und seine Ensembles mit ihren Bach-Interpretationen zwar „noch auf der konservativen Seite“, aber er wolle „den Bach-Klang, wie ich ihn mir vorstelle, in den nächsten Jahren hier deutlich herausarbeiten“: als ein „Musizieren aus der sächsischen Tradition heraus – nur eben historisch informiert und je nach Raum mal klein besetzt und mal auch größer - eben so, dass es im Beethovensaal nicht nur zirpt“.

Alte Instrumente sind nicht schlechter als moderne

Die Art, wie Bachs Musik seinerzeit geklungen haben muss, stecke „tief in den Werken“, Überreste höre man noch heute bei den barocken Silbermann-Orgeln, und im Übrigen sei der Klang der alten Instrumente dem moderner Instrumente keineswegs qualitativ unterlegen. „Von einem alten Bild würde doch auch keiner behaupten, es sei notwendig schlechter, nur weil es nicht mit guten Farben von heute gemalt ist. Natürlich gibt es einen technischen Fortschritt bei den Instrumenten. Aber das ist kein ästhetischer Fortschritt, kein künstlerischer. Und künstlerischer Fortschritt ist ohnehin ein ganz merkwürdiger Begriff. Manche werden jetzt einwenden, dass der Abstraktionsgehalt in der Kunst natürlich immer höher geworden ist, dass er also bei Mozart höher ist als bei Bach. Aber ist dies das einzige Kriterium?“

Und dann schwärmt der Dirigent: von einem Klang, der „ein bisschen wuchtiger“ sei als in manchen Alte-Musik-Interpretation, und der „trotzdem noch elegant und sensitiv“ wirke. „Das Fromme von Luther“, sagt er, „soll man spüren, das möchte ich nach Stuttgart bringen.“

„Wir müssen etwas Bestimmtes sein“

Das sei dann jener Kern der Bachakademie, den es abzubilden gelte, auch im Musikfest, das zukünftig stärker „ein Spiegel der Bachakademie“ sein soll: „ Wir müssen weg vom Gemischtwarenladen. Bei allem, was wir tun, müssen wir unser Profil rüberbringen. Wir können nicht alles sein, wir müssen etwas Bestimmtes sein.“

Dabei wird von entscheidender Bedeutung sein, ob Hans-Christoph Rademann die Geldgeber auf Dauer für sich, seine Ideen, Konzerte und Konzepte begeistern kann. Auch jetzt, bei einem Musikfest, das – laut Rademann vor allem aus einem gewissen „Realitätssinn“ heraus – 2015 deutlich bescheidener daherkommt als in den Jahren zuvor. Ob der Publikumszuspruch bei einem konzentrierten Festival wirklich besser ist, muss sich erst weisen. Entwicklungslinien im Programm kann man aber jetzt schon deutlich erkennen: die Öffnung der Reihe „Sichten auf Bach“ hin zur Instrumentalmusik (der Cellist Jan Vogler wird in zwei Mittagskonzerten Bachs sechs Cello-Solosuiten spielen), die Rademann zukünftig noch mit „Neuem, Experimentellem“ erweitern will; dazu die Reihe „Stuttgart singt“, bei der Chöre der Stadt an verschiedenen Orten Passanten zum Mitsingen auffordern.

Das Budget reicht nicht aus für ein Festival mit internationaler Strahlkraft

Der Etat macht dem Akademieleiter allerdings Sorgen. „Wir veranstalten das Musikfest nicht, weil es das vor uns schon gegeben hat, sondern weil eine Stadt mit einer so starken Kultur und mit so starker Wirtschaftskraft ein solches Aushängeschild braucht. Obwohl die Stadt Stuttgart ihr finanzielles Engagement für das Musikfest bereits ausgebaut hat, genügt dieses Budget leider nicht, um ein Festival mit nachhaltiger internationaler Strahlkraft aufzubauen.“

Auch aus diesem Grund wird die Bachakademie in diesem Jahr ein neues Konzertformat in ihr Musikfest aufnehmen: In „Unternehmen Musik“ wird am Firmen-Standort von Sponsoren Musik gemacht. Ob das Stuttgarter Publikum dies auch annimmt, ob es seinen Kessel also verlassen wird, um etwa zur Firma Kärcher nach Winnenden zu fahren? Man wird sehen. Die Konzert-Idee für sich findet Hans-Christoph Rademann immerhin „absolut zukunftsträchtig“: „Das kann“, sagt er, „ das absolute Unikat sein: ein Vorzeigefestival für die ganze Welt, wenn es uns gelingt, die Partnerschaft von Kultur und regionalen Unternehmen zu stärken und auszubauen. Auch in Zukunft muss man auf die Unternehmen zugehen und völlig neue sinnliche Erlebnisse schaffen zwischen Technik und Musik.“

„Sensationssängerin“: Anna Lucia Richter

Jetzt aber muss der Dirigent zurück zur Kunst, zu Mozarts früher Oper „Idomeneo“. Rademann, so scheint es, hat das Stück ins Herz geschlossen. Wegen der Musik, wegen der Sänger, besonders wegen der erst 25-jährigen Anna Lucia Richter, denn „das ist eine Sensationssängerin mit Idee, Meinung, Kante, die aber dennoch flexibel ist und technisch perfekt“. Die Sopranistin singt die Ilia, und diese zieht in der Oper ein Fazit, das Rademann auch gefällt: dass nämlich „Schluss sein muss mit dem Glauben, man müsse stur alles so machen, wie es die Götter vorgeben, nur damit diese nicht zürnen.“

Hans-Christoph Rademann hat jedenfalls keine Angst vor dem Zorn irgendwelcher Götter. „Ich bin gespannt, ob in diesem Musikfest-Komprimat der Besuch so dümpelig bleibt wie früher – oder ob das Festival besser besucht wird, weil es konzentrierter ist. Notfalls müssen wir unseren Kurs eben noch einmal korrigieren. Man muss alles ausprobieren. Und ich glaube fest daran, dass die Leute immer mehr Vertrauen in uns bekommen und irgendwann spüren, dass unsere Musik mitreißt, dass ein Beat da ist.“